„Ja, sie hat mir kürzlich erzählt, dass sie vorhat zu vermieten, Herr ...?“
„Oh! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Sander, Florian Sander. Er hält ihr seine rechte Hand hin. Sie ergreift sie und spürt einen kräftigen Händedruck.
„Holm, Kristina Holm. Auf gute Nachbarschaft.“
„Also, dann will ich sie nicht länger aufhalten, Frau Holm. Ich muss noch was erledigen. Bis zum nächsten Mal.“
Bevor Kristina etwas erwidern kann dreht er sich um und läuft über die Straße zu seinem Wagen. Sie sieht ihm nach, ihre Blicke ruhen auf seinen breiten, kräftigen Schultern. „Sympathischer Bursche“, murmelt sie und geht wieder ins Haus. In der Küche angekommen schaut sie durchs Fenster nach draußen. Florian Sander fährt soeben in seinem Wagen weg. Sie setzt sich an den Tisch, gießt sich eine Tasse Kaffee ein. Plötzlich läutet das Telefon. „Jetzt reicht es!“ Kristina springt auf und stößt an den Tisch. Ein Schwall heißer Kaffee schwappt über den Rand der Tasse auf ihre Leggins. „Scheiße!“, schimpft sie. Wütend rennt sie ans Telefon, reißt das Mobilteil aus der Ladestation. „Hören sie! Wenn sie ein verdammtes, perverses Arschloch sind, dann soll sie der -.“
„Kristina, wie redest du mit deiner Mutter?“ Empörung schwingt in der Stimme der Frau am anderen Ende der Leitung mit.
„Oh! Hallo, Mam. Entschuldige, aber irgendjemand ruft mich alle zehn Minuten an und meldet sich nicht. Ich dachte die Person ist wieder dran.“
„Vielleicht erlauben sich Kinder einen Spaß um dich zu ärgern, das hört bestimmt wieder auf.“
„Na hoffentlich. Ich kann nicht andauernd ans Telefon hetzen. Weshalb ruft du an?“
„Ich wollte nur fragen, ob Gerd dich am Samstag begleitet, wenn du Julia abholst. Wir könnten dann -.“
„Gerd hat mich gestern Abend verlassen Mam“, sagt Kristina leise.
„Was hat er? Was soll das heißen?“ Ihre Mutter ist geschockt und was bei ihr ziemlich selten vorkommt, nahezu sprachlos.
„Das soll heißen, dass er ausgezogen ist. Zu einer anderen Frau.“
„Zu einer an...“ Ihre Mutter ist fassungslos, sie kann den Satz nicht zu Ende sprechen. „Aber wieso um Gottes Willen?“, fragt sie nach einer kurzen Pause.
„Das erkläre ich dir am Wochenende. Ist Julia da?“
„Nein, sie ist bei ihrer Freundin nebenan. Kristina, wir dürfen ihr nicht sagen, dass ihr Vater ausgezogen ist, das würde sie nicht verstehen!“
„Mir fällt schon noch was ein, Mam. Wir sehen uns am Samstag. Okay?“
„Kristina, lass dich nicht unterkriegen, das Leben geht weiter, denk an deine Tochter!“
„Hast du schon vergessen, wie ich von Vater und dir erzogen wurde? Selbstbewusst musst du werden und lernen Rückschläge wegzustecken, habt ihr mir von klein auf eingeprägt. Oft fragte ich mich, was das Ganze soll und fand eure
Gebetsmühlenartigen Predigten ziemlich nervig. Seit gestern bin ich euch dankbar dafür.“
„Mein armes Kind, ich kann Gerd nicht verstehen.“
„Bitte Mam, bemitleide mich nicht. Du kennst mich, ich beiße mich schon durch. Wir reden am Wochenende weiter, ja?“
„Bleibst du zu Hause? Soll ich dich noch einmal anrufen?“
„Nein. Ich hatte schon letzte Woche Schwierigkeiten für heute frei zu bekommen. Wenn ich morgen nicht im Büro erscheine, wird mein Chef an die Decke gehen.“
„Mach ´s gut Mädchen.“
„Du auch Mam“, sagt Kristina.
Nachdem das Gespräch beendet ist, muss sie an ihren Mann und an ihre Tochter denken. Bedrückt geht sie in die Küche zurück, nimmt ihre Tasse und schüttet den inzwischen kalten Kaffee in den Ausguss. Dabei beobachtet sie wie ihre Nachbarin, Frau Keller, soeben die Haustür aufschließt. Kristina ruft sich die kürzlich von Frau Keller fallen gelassene Andeutung in ihr Gedächtnis zurück: Sie möchte, weil sie sich nach dem Tod ihres Mannes so einsam in dem großen Haus fühlt, eventuell ein Zimmer vermieten. Ihre Kinder wohnen weit weg, besuchen sie selten. Also will sie versuchen einen ruhigen jungen Mann, der ihr bei der Gartenarbeit unter die Arme greift, zur Untermiete bei sich aufzunehmen. Wie sich Kristina bereits persönlich überzeugen konnte, ist es der alten Dame auch gelungen jemanden zu finden. Frau Keller verschwindet im Haus und Kristina widmet sich wieder ihrem sehr verspäteten Frühstück. Sie kaut lustlos, ohne großen Appetit, auf ihrem mit Käse belegten Brot herum. Ihre Gedanken kreisen um zwei Menschen: Um Gerd, den sie seit sechzehn Jahren kennt und liebt und um Julia, die gemeinsame, fünf Jahre alte Tochter.
Der Tag verlief für Gerd Holm furchtbar. Als Abteilungsleiter eines großen Kaufhauses musste er sich heute – seinem Empfinden nach – mit sämtlichen Nörglern dieser Stadt herumschlagen. Mehrmals während kurzer Ruhepausen drängte es ihn, Kristina anzurufen. Dreimal wählte er seine – oder besser gesagt ihre, ja, seit letzter Nacht ist es ihre – Nummer. Jedes Mal, als er ihre Stimme hörte, verließ ihn der Mut mit ihr zu reden. Er legte nach einigen Sekunden wortlos wieder auf. Die späteren Versuche sie zu erreichen waren nicht mit Erfolg gekrönt, denn der Anschluss war andauernd besetzt. Jetzt ist er auf dem Nachhauseweg und seine Gedanken jagen sich. Er ist geneigt zu ihr zu fahren, um nachzusehen ob mit ihr alles in Ordnung ist. Wie aus heiterem Himmel durchzuckt eine Welle des Schmerzes sein Gehirn. Nur mit Mühe kann er sein Fahrzeug auf der Straße halten und er hätte beinahe eine Reihe parkender Autos gerammt. Zum Glück ist es von seiner Arbeitsstelle zu Tanjas Wohnung nicht so weit. Er schafft es mit letzter Kraft, seinen Wagen bis auf den Parkplatz der Wohnanlage zu steuern. Holm bleibt noch einige Minuten im Auto sitzen. Er umklammert das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten. Allmählich ebbt der Schmerz in seinem Kopf ab. Er muss sich zwingen auszusteigen und nach oben zu gehen.
Tanja erschrickt als sie ihn sieht. Sein Gesicht ist blass, kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn.
„Gerd, ist etwas passiert?“, mit besorgter Mine sieht sie ihn an.
„Nein, ich fühle mich nur nicht so gut. Ich muss mich einen Augenblick hinlegen.“ Er zieht seine Schuhe aus. Achtlos lässt er sie im Flur stehen, wirft seine Jacke auf die Garderobe und geht ins Schlafzimmer. Auf dem Bett sitzend lockert er seine Krawatte, legt sich zurück und ist wenige Minuten später eingeschlafen.
Eine sanfte Berührung lässt Holm die Lider öffnen. Tanja sitzt auf der Bettkante, ihre Hand ruht auf seiner Stirn.
„Wie lange habe ich geschlafen?“, etwas orientierungslos sieht er sie an.
„Drei Stunden. Was war los, hattest du Schmerzen?“
„Ja, nicht lange, aber ziemlich heftig. Ich hatte das Gefühl jemand bohrt eine glühende Speerspitze in meinen Schädel. Gestern Abend, als ich Kristina verlassen hatte und auf den Weg hierher war, ist es noch schlimmer gewesen. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich irgendwo angehalten habe, um aus dem Wagen zu steigen. Der Schmerz machte mich fast wahnsinnig. Ich lief wie benebelt umher. Grelle Blitze zuckten vor meinen Augen, ich konnte fast nichts erkennen. Als ich wieder einigermaßen zu mir kam stand ich in einem, vom Regen aufgeweichten, Blumenbeet. Zum Glück hatte ich nur wenige Meter davon entfernt meinen Wagen geparkt, ich hätte sonst nicht gewusst, wo ich ihn suchen soll.“
„Das erklärt, warum deine Schuhe total verdreckt waren“, sie streicht ihm liebevoll übers Haar.
„Tanja, der Arzt sagt, dass außer den Sehstörungen und den Erinnerungslücken, die gestern Nacht zum ersten Mal auftraten, außerdem früher oder später eine Lähmung der einzelnen Gliedmaßen einsetzen könnte. Versprich mir, wenn es soweit ist, bringst du mich in ein Krankenhaus ..., in ..., in dem ich ...“ Seine letzten Worte kommen ihm nur stockend über die Lippen und er ist nicht fähig zu Ende zu sprechen.
„Ich