„Bist du soweit?“ Gerd Holm zuckt zusammen, als sich die Schiebetür der Dusche einen Spalt breit öffnet.
„Zwei Minuten.“ Er stellt das Wasser ab. Ohne sich zu ihr umzudrehen tasten seine Hände nach dem Handtuch, das sie ihm hinhält. Er legt es über den Kopf, damit sie seine geröteten Augen nicht sieht und beginnt seine Haare abzurubbeln.
„Ich öffne inzwischen den Wein. Okay?“
„Ja, nur zu! Ich beeile mich.“
Sie verlässt das Badezimmer und Holm ist froh darüber. Er möchte nicht, dass sie jetzt schon Verdacht schöpft. „Nach dem Essen! Ja! Nach dem Essen werde ich es ihr sagen“, überlegt er laut. Holms Herz schlägt bis zum Hals und er fühlt wie sich sein Brustkorb zusammenzieht. Nachdem er sich abgetrocknet hat geht er ins Schlafzimmer, um frische Sachen anzuziehen. Anschließend begibt er sich in das kleine gemütliche Esszimmer, in dem Tanja bereits am gedeckten Tisch auf ihn wartet.
Sie hat die Gläser bereits halb mit Rotwein gefüllt. Der Gemüse Auflauf, den sie ihm auf den Teller legt, duftet verführerisch. „Guten Appetit“, wünscht sie ihm lächelnd.
„Was ist los mit dir?“, besorgt sieht sie ihn nach einiger Zeit an. „Du starrst auf deinen Teller und stocherst im Essen herum. Hast du keinen Hunger oder schmeckt es dir nicht?“
„Doch, doch, es ist ausgezeichnet. Ich habe nur an etwas gedacht.“
„Dann bin ich beruhigt. Erzähl, was sagt dein Arzt!“
„Die Ergebnisse liegen vor“, entgegnet er, ohne vom seinem Teller aufzublicken.
Der Klang seiner Stimme macht sie stutzig. Sie legt ihre Gabel zur Seite, ihre Hand tastet nach seiner und drückt sie sanft. „Irgendetwas ist mit dir! Hat es mit dem Arztbesuch zu tun?“
Er hört auf sein Essen lustlos hin und her zu schieben, legt seine Gabel ebenfalls zur Seite, sieht Tanja an und nickt. „Ich habe Krebs“, flüstert er. „Unheilbar! Nichts zu machen. Dr. Finke gibt mir höchstens noch sechs Monate!“ Mühsam formen seine zitternden Lippen die Silben. Er spürt nicht, wie sich ihre Fingernägel mit jedem seiner Worte stärker in seine Hand krallen. „Du, ... du hast ... Krebs? Ist das ... sicher?“ Tanja ist, als hätte ihr jemand mit einem Knüppel auf den Kopf geschlagen. Wie betäubt sieht sie ihn an.
„Todsicher!“, antwortet er, ohne sich der Tragweite dieses Wortes im Augenblick bewusst zu sein.
„Aber es muss doch eine Möglichkeit geben“, Hilflosigkeit spiegelt sich in ihren Augen. „... eine Operation, ... eine Chemotherapie oder -.“
„Der Arzt sagt es gibt keine Chance. Drei-, höchstens sechs Monate noch, dann gibt es Gerd Holm nicht mehr.“
„Ich glaube es nicht! Ich will es nicht glauben!“ Es klingt wie der verzweifelte Hilfeschrei einer Ertrinkenden, die sich an einen Strohhalm klammert, als sie verzweifelt die Worte hinausschreit. Unvermittelt springt sie auf, stößt dabei ihren Stuhl nach hinten um und rennt panisch aus dem Zimmer.
Er erhebt sich, stellt im vorbeigehen den umgestürzten Stuhl auf und folgt ihr langsam. Sie steht im Wohnzimmer am Fenster und sieht traurig durch den Regenschleier hinaus auf die verschwommenen Lichter der Stadt. Ihr Körper wird von einem Weinkrampf geschüttelt, als er sich neben sie stellt. Behutsam legt er seinen Arm um ihre zuckenden Schultern. „Beruhige dich, Liebling. Du bist noch so jung, erst vierundzwanzig. Für dich geht das Leben weiter, du wirst jemand anderen -.“
„Ich will niemand anderen, ich will dich!“, fällt sie ihm schluchzend ins Wort, dreht sich zu ihm und legt ihren Kopf an seine Brust. Minutenlang stehen beide schweigend eng umschlungen da, bis Tanja die Stille unterbricht. „Was hast du jetzt vor? Wie wird es mit uns weitergehen?“
„Ich liebe dich“, antwortet er leise und streichelt mit dem Handrücken zärtlich über ihre Wange. „Wenn du willst, verbringen wir meine letzten Monate gemeinsam. Du musst dir allerdings klar darüber sein, dass es nicht einfach wird. Wenn die Schmerzen stärker werden, du zusehen musst wie ich nach und nach verfalle, wie mich die Krankheit langsam auffrisst -.“
„Hör auf! Bitte hör auf! Ich liebe dich auch, das weißt du. Ich möchte, dass du so lange es möglich ist bei mir bist!“
„Also, gut. Ich fahre jetzt nach Hause und hole einige Sachen. Wann ich wieder hier bin kann ich nicht sagen, aber ich komme auf jeden Fall noch heute Nacht. Kristina war zusammen mit Julia bei ihrer Mutter, ich weiß nicht ob sie schon zurück ist.“
„Wirst du ihr die Wahrheit sagen?“
„Ja.“ Sein Blick folgt abwesend den unzähligen Regentropfen, die an der
Fensterscheibe hinab rinnen.
„Und was glaubst du, wie wird deine Frau reagieren?“
„Ich weiß es nicht.“
Gerd Holm drückt den Knopf der Fernbedienung. Das automatische Tor der Doppelgarage schwingt langsam nach oben. Er sieht, dass der Kleinwagen seiner Frau an seinem Platz steht und fährt in die Garage. Als er aussteigt, signalisiert ihm das leise, knackende Geräusch des abkühlenden Auspuffs von Kristinas Wagen, dass sie erst kurz vor ihm eingetroffen sein muss. Holm verzichtet darauf das Tor zu schließen, denn er will so schnell wie möglich alles hinter sich bringen. Durch den direkten Zugang zum Haus betritt er die Diele und geht sofort ins Schlafzimmer, aus dem er Geräusche hört. Seine Frau steht, nur mit BH und Slip bekleidet, vor dem Schrank und zieht sich um. Kristina Holm ist zweiunddreißig Jahre alt und auf natürliche Art hübsch. Sie benützt so gut wie kein Make Up und nur ab und zu einen dezenten Lippenstift. Die leicht gewellten, braunen Haare reichen ihr bis zu den Schultern. Ihre braunen Augen mit den langen Wimpern und den gleichmäßig geschwungenen Brauen, glänzen voller Lebenslust. Kristinas Nase, die sie selbst immer um eine Spur zu groß findet, steht ihr hervorragend zu Gesicht und wirkt sich keineswegs nachteilig auf ihr Aussehen aus. Sie schlüpft gerade in ein T-Shirt, als ihr Mann das Schlafzimmer betritt.
„Hallo Gerd. Ich habe mich schon gewundert, dass du nicht hier warst. Musstest du länger arbeiten?“
„Nein“, antwortet er einsilbig. Nachdenklich sieht er ihr zu, wie sie sich ihre weinroten Leggins über ihre schlanken Beine streift.
„Wo ist Julia, schläft sie schon?“
„Nein, sie wollte bei ihrer Oma bleiben. Ich dachte es ist nicht so schlimm, wenn sie ein paar Tage Kindergarten versäumt. Ich hole sie am Samstag wieder ab.“
„Kann ich mit dir reden, Kristina?“
„Sicher. Um was geht es?“ Sie geht ein paar Schritte auf ihn zu.
„Es ist, ... wie soll ich sagen, ... es geht um ...“, mühsam versucht er die richtigen Worte zu finden. „Nun ja, es betrifft dich und mich und ist eine ernste Angelegenheit.“
„Nur zu, immer raus damit! Oder hast du Angst ich reiße dir den Kopf ab?“, ermuntert sie ihn.
„Das wäre das Beste was mir passieren kann.“ Seine Augen fixieren einen, nur in seiner Vorstellung existierenden, Punkt an der Wand.
Erstaunt sieht sie ihn an. „Das Beste was ...? Wie meinst du das?“, fragt sie verwundert und legt ihre Stirn in Falten.
„Ich werde ... dich und Julia ... verlassen“,