Die abnehmende Sichel des Mondes. Willi Kuhlmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willi Kuhlmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738000429
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bitte! Willst du zusehen wie ich langsam dahinsieche? Willst du mich füttern, wenn ich meine Arme nicht mehr bewegen kann? Willst du mir eine Bettpfanne unterschieben, mir den Hintern abwischen, wenn ich nicht mehr aufstehen und zur Toilette gehen kann?“ Er richtet sich auf, setzt sich neben sie und legt eine Hand auf ihre Schultern. „Bitte sieh mich an Tanja!“, schreit er sie an, seine Stimme überschlägt sich fast. „Willst du dir das zumuten, mich als sabberndes, stumm vor sich hin glotzendes Stück Fleisch ertragen zu müssen bis ich endlich qualvoll krepiere?!“

      Ihr Kopf ruckt in die Höhe. Ihre geröteten Augen halten seinem Blick stand und sie schleudert ihm ihre Worte ins Gesicht. „Ja! Ja! Ja! Und nochmals Ja! Als du mir gestern eröffnet hast, dass es für uns keine lange gemeinsame Zukunft gibt, hätte ich dir genauso gut sagen können du sollst zu deiner Familie zurückgehen. Weißt du warum ich es nicht tat? Weil ich dich liebe, Gerd! Ich will mit dir so lange es uns möglich ist zusammen sein auch wenn ich all das, was du gerade aufgezählt hast, auf mich nehmen muss!“

      Als sie ihm ihre Arme um den Hals legt wird sie von einem Weinkrampf geschüttelt.

      Er zieht sie sanft zu sich heran. „Verzeih mir bitte, aber wir müssen uns klar darüber sein, dass es nicht einfach wird.“

      „Versuchen wir das Beste daraus zu machen“, schluchzt sie, den Kopf an seine Brust gedrückt, „es bleibt uns so wenig Zeit.“

      „Ich verspreche es dir“, sagt er, fasst ihr mit der Hand unters Kinn und hebt ihren Kopf leicht an. Als sich ihre Lippen sanft berühren, befällt ihn ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Seine Gedanken gleiten in eine Welt in der es ihm nicht vergönnt sein soll zu leben. Gerd Holm ahnt in diesem Augenblick nicht im Entferntesten, dass das Unheil mit riesigen Schritten auf ihn zueilt und im Begriff ist, ihn erbarmungslos zu zertreten.

      Hauptkommissar Zink und Kommissar Brenner sitzen sich im Büro an ihren Schreibtischen gegenüber.

      „Lothar, in all den Jahren bei der Mordkommission kann ich mich an keinen Fall erinnern, bei dem das Opfer so übel zugerichtet war. Bis jetzt hatten wir es eher mit harmlosen Tätern zu tun. Versteh mich richtig, wenn es um den gewaltsamen Tod eines Menschen geht, ist nichts harmlos. Aber Mord im Affekt, wie bei der Frau die wir hier haben, Totschlag, schwere Körperverletzung mit Todesfolge, das kann überall vorkommen. Diesmal jedoch weiß ich nicht, was ich davon halten soll“, sagt Zink nachdenklich.

      Brenner legt die Stirn in Falten. „Könnte es sein, dass sich irgendeine Bande in unserer Stadt breit macht? Hat der Mann etwas gewusst, was er nicht wissen durfte? Oder war er ein unliebsamer Zeuge?“

      „Diese Überlegung habe ich auch schon angestellt, aber wieder verworfen. Die erledigen ihre Sachen anders, nicht so. Die schießen jemanden in den Kopf. Schneiden einem die Kehle durch. Brennen das Haus nieder oder arrangieren einen Unfall. Die schneiden keinen Penis ab.“

      „Vielleicht hat er die Freundin oder die Frau eines anderen beglückt“, wirft Brenner ein.

      „Gut, das wäre eine Möglichkeit. Aber die Augen, wieso wurden dem Mann die Augen ausgestochen?“

      „Er hat etwas gesehen was er nicht sehen sollte“, weiß Brenner auch darauf eine Erklärung.

      „Das sehe ich auch noch ein“, stimmt Zink zu und tippt sich mit dem Bleistift, den er zwischen den Fingern hält, an die Lippen. „Weshalb wurde dem Opfer das Herz herausgeschnitten?“

      „Dazu fällt mir auch nichts ein“, gesteht Brenner. Er lehnt sich resignierend in seinem Stuhl zurück. „Willst du meine Meinung hören, Heinz? Entweder wir haben Glück und dieser Zeuge, wie heißt er doch gleich ...?“

      „März.“

      „... genau, dieser März ist ein Glücksgriff für uns oder wir haben hier einen Fall am Hals, an dem wir gewaltig zu knabbern haben.“

      „Wie meinst du das?“

      „Nun, stell dir mal vor, alle unsere bisherige Theorien sind falsch. Stell dir mal vor, durch unsere schöne Stadt schleicht nachts ein Wahnsinniger, dem es Freude bereitet an einem stillen Örtchen seine Opfer auszuweiden und sie uns hübsch verteilt auf den Präsentierteller zu legen. Kein schöner Gedanke, nicht wahr?“

      „Mal nur nicht den Teufel an die Wand, Lothar. Das wäre genau das, was wir nicht gebrauchen können. Einen Irren, der die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt.“ Zink wirft den Bleistift auf die Schreibunterlage und sagt müde: „Ich glaube wir machen Feierabend, morgen ist auch noch ein Tag.“

      Die beiden stehen auf. Zink nimmt sein Sakko, Brenner seine Lederjacke vom Kleiderhaken und sie gehen zur Tür. Exakt in dem Moment als sie das Büro verlassen wollen, fliegt die Tür auf. Um Haaresbreite wäre sie auf Brenners Nase gelandet.

      „Dengler, wie sie es nur immer wieder schaffen, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Gibt’s was Neues oder können wir nach Hause gehen?“

      „Entschuldigung, Herr Kommissar“, murmelt Dengler verlegen und zwängt sich zwischen seinen Kollegen hindurch in das Büro. „Nichts Neues.“

      „Wie sind sie hierher gekommen, gelaufen?“ Brenner hebt fragend die

      Augenbrauen.

      „Mit dem Stadtbus, Herr Kommissar. War ganz schön umständlich, ich musste zweimal umsteigen. Darf ich fragen was wir jetzt unternehmen?“ Voller Tatendrang sieht er Brenner an.

      „Nichts, Dengler, wir gehen nach Hause und machen morgen weiter“, antwortet Zink, der das Gespräch bis jetzt amüsiert verfolgt hat, gelassen.

      „Wir machen morgen ...“, der junge Beamte sieht seinen Chef ungläubig an.

      „Genau das tun wir. Bis morgen“, verabschiedet sich Zink. Bevor Brenner die Tür hinter sich zuzieht hebt er lächelnd die Hand zum Gruß. „Auf Wiedersehen, Kollege.“

      Beide schlendern den Flur hinunter. Plötzlich bleibt Brenner stehen, macht auf dem Absatz kehrt und läuft zurück. Er reißt mit einem Ruck die Bürotür auf, streckt den Kopf zwischen Türblatt und Rahmen hindurch. Freundlich sagt er zu seinem erschrockenen Kollegen: „Dengler, würden sie mir einen Gefallen erweisen?“

      „Selbstverständlich, Herr Kommissar“, antwortet dieser. Erwartungsvoll sieht er Brenner an. „Was soll ich tun?“

      „Erkundigen sie sich bei den Revieren, ob irgendwelche Vermisstenanzeigen vorliegen. Ich wäre ihnen sehr dankbar, wenn die Liste morgen früh acht Uhr auf meinem Schreibtisch liegt.“

      „Wird sofort erledigt.“ Eifrig schnappt sich Dengler das Telefon.

      „Ich werde sie in mein Nachtgebet einschließen, Herr Kollege“, lächelt Brenner und schließt die Tür.

      Zink, der an der Treppe auf ihn wartet, sieht ihn fragend an. „Was war los, hast du was vergessen?“

      „Nein. Ich wollte diese Arbeit morgen früh erledigen, aber ich dachte, weil unser junger Kollege so enttäuscht geguckt hat, als du gesagt hast wir gehen nach Hause, kann er das übernehmen. Ich habe ihm aufgetragen eine Liste von vermissten Personen anzulegen.“

      „Und, wie hat er reagiert?“

      „Er hat sich gierig darauf gestürzt, wie ein Löwe auf seine Beute.“

      „Langsam glaube ich auch, dass er Polizeipräsident werden will.“ Zink schmunzelt. „Wir müssen nur aufpassen, dass er in seinem Eifer nicht einmal über das Ziel hinaus schießt und sich den Schädel einrennt. Denn so wie es aussieht, wird ein guter Polizist aus ihm.“

      Das plötzlich laut einsetzende Summen ihres Radioweckers reißt Kristina Holm aus dem Schlaf. Ihre Hand kriecht schwerfällig unter der Bettdecke hervor, tastet nach dem Ruhestörer und ein leichter Druck auf die Stopptaste sorgt dafür, dass das penetrante Geräusch verstummt. Obwohl sie zeitig schlafen ging, fühlt sie sich wie erschlagen. Sie verbrachte wieder eine unruhige Nacht. Bizarre Träume, in denen sie den qualvollen Tod ihres Mannes sowie seine Beerdigung ein um ´s andere Mal in verschiedenen