„Es gibt mehrere Gründe. Einer davon ist, dass ich Krebs habe und bald sterben werde. Außerdem -.“
„Du hast ..., du wirst bald sterben, ...mein Gott. Deshalb willst du weg von uns?", fassungslos sieht sie zu ihm auf. „Gerd! komm zu dir! Du musst -.“
„Du kannst mich nicht umstimmen. Meine Entscheidung ist gefallen, Kristina. Außerdem ist die Krankheit nicht der einzige Grund“, sagt er mit vibrierender Stimme.
„Nicht der einzige Grund? Es gibt mehrere Gründe?“ Sie erhebt sich und steht völlig ratlos vor ihrem Ehemann.
„Ja. Ich habe seit einiger Zeit eine Freundin, bei der ich wohnen werde. Wahrscheinlich wäre ich über kurz oder lang sowieso gegangen. Dass ich vielleicht nur noch sechs Monate zu leben habe, hat mein Vorhaben nur beschleunigt.“
„Du hast eine ...“, urplötzlich wird ihr schlecht. Sie ist unfähig den Satz zu Ende zu sprechen. Kristina stößt ihren Mann mit dem Arm zur Seite und rennt aus dem Schlafzimmer. Im letzten Moment erreicht sie das Bad. Sie reißt den Deckel der Toilettenschüssel auf. Nach vorne gebeugt, mit auf den Knien abgestützten Händen, steht sie würgend da und übergibt sich, bis sie das Gefühl hat, ihr Magen müsse jeden Augenblick vor ihr in der Toilette liegen.
Als sie zurück ins Schlafzimmer kommt ist ihr Mann soeben damit fertig einige Kleidungsstücke in einer Reisetasche zu verstauen. „Kristina, ist alles in Ordnung?“ fragt er bedrückt und legt seine Hand sanft auf ihre Schulter.
„Du eröffnest mir aus heiterem Himmel, dass du todkrank bist!“, mit einer unwilligen Handbewegung schlägt sie wütend seinen Arm zur Seite. „Im gleichen Atemzug sagst du mir ins Gesicht, dass du eine Freundin hast! Wie ich sehe packst du deine Sachen, um zu ihr zu ziehen!“ Ihr Gesicht befindet sich nun dicht vor seinem. „Nun fragst du mich, ob alles in Ordnung ist? Wieso sollte nicht alles in Ordnung sein? Es ist alles wunderbar!“ Wie Pfeile schleudert sie ihm die Worte entgegen und blickt ihm dabei unverwandt in die Augen.
„Bitte beruhige dich, ich -.“
„Geh jetzt, sie wartet bestimmt schon auf dich!“, schreit sie ihn an. Sie wirft sich aufs Bett und vergräbt ihr Gesicht im Kopfkissen.
„Am Wochenende komme ich und hole meine restlichen Sachen, dann kann ich auch mit Julia reden, wenn es dir recht ist.“
Kristina reagiert nicht. Holm nimmt mit zitternden Händen die Reisetasche auf und läuft ins Bad. Dort wirft er sein Rasierzeug und ein paar andere Toilettenartikel in die Tasche. Danach geht er nach oben, schaut in das Zimmer seiner Tochter, lässt seine Blicke über die Spielsachen und über das leere Bett schweifen. Plötzlich hat er das Gefühl, als würde sich eine stählerne Klammer um seinen Hals zusammenziehen. Die Kehle wird ihm zugeschnürt, das Atmen fällt ihm schwer. Schnell löscht er das Licht und läuft eilig die Treppe hinab in die Garage. Hastig steigt Holm in seinen Wagen, startet den Motor und rollt die Ausfahrt hinaus über den Gehsteig auf die Straße. Dort hält er kurz an. Er drückt den Knopf seiner Fernbedienung und wartet, bis sich das Garagentor geschlossen hat. Als er auf den vom Regen glänzenden Straßen durch die Stadt fährt, ist es kurz vor Mitternacht. Gerd Holm weint zum zweiten Mal an diesem Tag.
Vom Schlafzimmerfenster aus schaut Kristina mit Tränen in den Augen dem davonfahrenden Wagen nach. „Was habe ich nur falsch gemacht?“, überlegt sie laut. „Wenn einen das Schicksal strafen will, schlägt es mit aller Härte zu. Über was soll ich mehr schockiert sein? Über seine Krankheit? Darüber, dass er bald sterben wird? Soll ich mich mit der Frage quälen warum er mich betrogen hat? Nein! Ich werde stark sein! Ich muss an Julia denken, wir werden es schaffen!“ Müde von der Aufregung der letzten halben Stunde geht sie ins Badezimmer, um den säuerlichen Geschmack des Erbrochenen aus dem Mund zu spülen. Kurz darauf begibt sie sich mit schweren Schritten ins Schlafzimmer. Angezogen lässt sie sich aufs Bett fallen. Minuten später schläft sie wie erschlagen ein.
Tanja hat auf ihn gewartet. Sie kommt ihm entgegen, als er die Wohnung betritt. „Du bist spät dran“, stellt sie fest.
„Ich war wie benebelt und musste unterwegs anhalten, um frische Luft zu schöpfen“, murmelt er fast unverständlich.
„Wo bist du gewesen? Deine Schuhe sind ja total schmutzig“, ein vorwurfsvoller Ton schwingt in ihrer Stimme mit, als sie auf seine Füße schaut.
„Oh! Tut mir leid, das habe ich gar nicht bemerkt“, entschuldigt er sich und schlüpft aus seinen, mit feuchter Erde verdreckten, schwarzen Halbschuhen.
„Wie hat deine Frau reagiert?“, fragt sie neugierig.
„Wie reagiert eine Frau mit einer fünfjährigen Tochter, die Knall auf Fall von ihrem Mann verlassen wird, deiner Meinung nach auf diese Nachricht?“, stellt er unwirsch eine Gegenfrage.
„Tut es dir leid, dass du -.“
„Tanja, bitte! Nichts tut mir leid, ich bin nur müde. Lass uns schlafen gehen, ich muss morgen zeitig aufstehen.“
Als er neben ihr im Bett liegt, die Wärme ihres Körpers spürt und ihre ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge hört, kreisen seine Gedanken um seine Vergangenheit und um seine Zukunft. Er denkt an seine Tochter, deren Einschulung er nicht mehr erleben wird. Er denkt an die Zeit mit Kristina und an die letzten Monate die ihm bleiben. Vor seinem geistigen Auge lässt er sein Leben Revue passieren. Er denkt über seine Krankheit nach, stellt sich vor wie der kleine Rest seines Lebens mit Tanja verlaufen könnte. Erst als der Morgen graut, fällt Gerd Holm in einen unruhigen, von wirren Träumen begleiteten Schlaf.
Heinz Zink, achtundfünfzig Jahre alt und Leiter der Mordkommission, sitzt müde vorn über gebeugt an seinem Schreibtisch. Er studiert eine Akte, als das Läuten des Telefons ihn aus der Konzentration reißt. Mit der Linken nimmt er den Hörer ab, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und kratzt sich mit der Rechten an seinem, mit schütterem, dunkelbraunem Haar bewachsenen, Kopf.
„Mordkommission, Zink“, knurrt er, während sich sein Hemd bedrohlich über der Wölbung seines Bauchansatzes spannt.
„Pelzer, viertes Revier. Guten Morgen Herr Hauptkommissar.“
„Morgen, Pelzer“, brummt er ins Telefon, „was gibt es in aller Herrgottsfrühe?“
Der Beamte ist von Zinks Tonfall in dessen Stimme leicht irritiert, denn Zink ist als freundlicher und väterlicher Kollege sehr beliebt. „Arbeit für sie, Herr
Hauptkommissar. Ein Jogger ist im Stadtpark über einen Toten gestolpert. Zwei Streifen von uns sind bereits dort und sichern den Fundort ab.“
Zink richtet ruckartig seinen Oberkörper auf. Die Lehne seines Stuhls schnellt nach vorne, augenblicklich ist er hellwach. „Wir sind in zehn Minuten da! Wo genau liegt der Tote?“
„Nur wenige Meter von der Straße entfernt, am kleinen Ententeich. Wissen sie wo -.“
„Ich weiß, Pelzer, danke!“ Zink legt den Hörer auf. Er öffnet seine Schreibtischschublade, nimmt die Akte die vor ihm liegt und wirft sie hinein. Er ist froh, dass er den Schreibkram zurückstellen kann, was aber nicht bedeutet, dass er erfreut darüber ist eine Leiche am Hals zu haben.
„Dengler!“ Er ruft den vierundzwanzigjährigen Polizeiobermeister, der die Frau – die vor zwei Tagen ihren besoffenen Ehemann mit einem Küchenmesser erstochen hat – im Zimmer nebenan über die Hintergründe und den Tathergang befragt.
„Ja, Chef.“
„Dengler, lassen sie bitte Frau Kress wegbringen, wir müssen in den Stadtpark!“
„In den Stadtpark? Aber ich habe noch nicht einmal ...“, setzt Dengler zu einem Einwand an, „... ich bin -.“
„Wollen sie sich mit mir an einen runden Tisch setzen und diskutieren?“, fragt Zink mit strengem Unterton in der Stimme.
„Nein, natürlich nicht“, entgegnet Dengler kleinlaut.