„Was ist los, Doktor? Sie sehen mich so seltsam an. Gibt es schlechte Nachrichten?“, fragt Holm verunsichert.
„Hatten sie in den letzten Tagen starke Schmerzen?“
„Die letzten zwei Tage nicht. Nur vorhin im Wartezimmer. Ist aber schon etwas besser.“
„Herr Holm, ... nun ja, wie soll ich es ihnen sagen? Ihre Krankheit ist ernsterer Natur, es gibt -.“
„Ernsterer Natur?“, unterbricht ihn Holm unsicher. Er rutscht nervös auf seinem Stuhl hin und her. „Was ist es? Wird es länger dauern?“ Nervös zwinkert er mit den Augenlidern.
Der Arzt beugt sich nach vorne, setzt seine Brille auf und betrachtet eingehend die Untersuchungsergebnisse, die vor ihm liegen.
„Der Befund meines Kollegen von der Uniklinik ist eindeutig.“ Seine Stimme ist eine Nuance leiser, als er über den Rand seiner Brille hinweg seinem Patienten in die Augen sieht. „Herr Holm, ... sie haben Krebs!“
„Ich, ... ich habe ... Krebs?“ Die Worte kommen rau und kaum hörbar über Holms Lippen. „Sagen sie, ... und bitte, sagen sie mir ... die volle Wahrheit, ... wie schlimm ...“, seine Stimme wird brüchig, er muss sich räuspern.
„Sehr schlimm! Ein Metastasenherd -“, versucht der Arzt zu erklären.
„Moment, Moment!“ Holm, kreidebleich im Gesicht, hebt abwehrend die Hände in Brusthöhe. „Wie stehen meine Chancen …“, fragt er aufgeregt.
„Eine Operation ist in diesem Stadium leider unmöglich. Sie haben einen Tumor im Kopf, an den wir nicht herankommen ohne Gefahr zu laufen, ihr Gehirn ernstlich zu verletzen. Es gibt keine Möglichkeit, leider ...“ Dr. Finke schüttelt mitfühlend den Kopf.
Niedergeschlagen, sich der Tragweite dieser Worte voll bewusst, sieht Holm seinen Arzt resignierend an. „Wie lange? Wie lange geben sie mir noch?“
„Drei-, vier-, maximal sechs Monate!“
Gerd Holm hat das Gefühl als ziehe man ihm, obwohl er sitzt, den Boden unter den Füßen weg. Er ist wie vor den Kopf geschlagen, unfähig sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Den Verkehrslärm, der durch das gekippte Fenster hereindringt, nimmt er wie durch einen dichten Wattebausch wahr und ihm ist, als sitze er in einem Karussell, so schnell dreht sich das Zimmer um ihn.
Die Stimme seines Arztes holt ihn wieder in die brutale Wirklichkeit zurück. „Herr Holm, hören sie mich? Ich gebe ihnen eine Spritze. Ruhen sie sich nebenan ein wenig aus, wir rufen ihnen ein Taxi das sie nach Hause bringt.“ Dr. Finke erhebt sich aus seinem Stuhl.
„Nein, nein!“ Holm dessen Stimme spröde klingt, hebt abwehrend die Hände. „Keine Spritze! Kein Taxi!“ Er lacht verhalten vor sich hin. „Ich bin vierunddreißig. In acht Monaten werde ich fünfunddreißig“, mit verschleiertem Blick sieht er Dr. Finke an. „Die Geburtstagsfeier fällt wohl ins Wasser. Sind sie da sicher?“
Leicht irritiert schaut ihn der Arzt an. „Wenn sie es so formulieren wollen, ja! Ja, ich bin sicher!“
„Ich danke ihnen für ihre Offenheit, Doktor. Sagen sie mir nur noch: wie verläuft die Krankheit?“
„Der Tumor drückt auf das Gehirn. Dies kann außer den Kopfschmerzen noch Übelkeit, Schwindel, Müdigkeit bis hin zur Ohnmacht, schlimmstenfalls
Wahnvorstellungen hervorrufen“, erklärt ihm Dr. Finke. Er sieht auf seinen Patienten, der wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl zusammengesunkenen ist.
„Kann ich jetzt gehen?“ murmelt Holm ohne aufzusehen.
„Wie gesagt, ich kann ihnen - .“
„Nein, ist schon gut, es geht schon wieder. Machen sie sich keine Gedanken.“
„Versprechen sie mir, dass sie zweimal in der Woche zu mir kommen. Wenn die Schmerzen stärker werden, muss ich ihnen Medikamente verabreichen, deren Dosierung um ein vielfaches höher ist als jetzt. Bis auf weiteres nehmen sie dreimal täglich einen Teelöffel von diesem Mittel, es wird ihnen vorerst noch Linderung verschaffen.“ Der Arzt greift in den Arzneischrank hinter sich, nimmt ein braunes Fläschchen heraus und hält es seinem Patienten hin.
Holm erhebt sich etwas unsicher. „Ich verspreche es“, mit zitternden Fingern greift er nach dem Medikament. Achtlos schiebt er es in seine Hosentasche. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlurft er mit schleppenden Schritten aus dem Sprechzimmer. Grußlos läuft er am Empfangstresen vorbei zum Ausgang der Praxis.
Gerd Holm geht unsicher die Treppe vom ersten Stock hinab ins Erdgeschoss. Seine Gedanken rasen außer Kontrolle und wirr durch seinen schmerzenden Schädel. Er muss sich mit einer Hand am schmiedeeisernen Geländer festhalten, um nicht zu stürzen. Als er auf den Gehsteig tritt atmet er tief ein, legt seinen Kopf in den Nacken und schließt die Augen. Es hat zu regnen begonnen. Er genießt die kalten Tropfen, die auf seiner Haut zerplatzen. „Wie wundervoll Regen sein kann“, murmelt er vor sich hin. Nachdem er einige Sekunden in dieser Stellung verharrt ist, wischt er sich mit den Händen übers Gesicht. Holm rafft sich auf und geht zu seinem Wagen. Er schließt die Fahrertür auf, müde setzt er sich hinter das Steuer. „Warum?“ sagt er halblaut zu sich selbst. „Warum spielt mir das Schicksal so übel mit? Krebs! Mit vierunddreißig Jahren Krebs! Höchstens noch sechs Monate zu leben! Irgendjemand hat das Todesurteil über mich verhängt! Nun wird es langsam und qualvoll vollstreckt! Mein Gott, wie bringe ich das nur Tanja bei? Ich muss sofort -.“ Er schreckt auf! Ein Klopfen an der Seitenscheibe reißt ihn aus seinen Gedanken. Holm betätigt den elektrischen Fensterheber und lässt die Scheibe ein paar Zentimeter herunter. „Ja bitte?“
„Junger Freund, ich suche einen Parkplatz. Seit einer halben Stunde fahre ich deswegen um die Häuser! Als ich sie einsteigen sah dachte ich sie fahren weg! Wollen sie hier übernachten oder machen sie endlich den Platz frei?“ Der ältere Mann, der neben Holms Wagen im Regen steht, hat einen barschen Tonfall am Leib und glotzt ihn grimmig an.
„Ich bin ... sofort weg“, sagt Holm geistesabwesend und startet den Motor.
„Wird auch höchste Zeit!“, schnauzt der Parkplatzsuchende, macht auf dem Absatz kehrt und steigt in sein Fahrzeug.
Gerd Holm legt den ersten Gang ein. Er gibt Gas und steuert seinen Wagen aus der Parkbucht.
Fünfzehn Minuten später erreicht er eine von vielen Büschen und Bäumen umsäumte Wohnanlage. Er stellt seinen Wagen auf den für die Wohnung Nummer fünf reservierten Stellplatz ab. Der Regen ist stärker geworden. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er sein Sakko vergessen hat. Mit weiten, raumgreifenden Schritten eilt er auf den Eingang des Hauses zu. Er zieht den Schlüssel aus der Hosentasche und sperrt die Tür auf. Kurz darauf steht er völlig durchnässt und außer Atem, in der von Tanja gemieteten Wohnung.
„Hallo, Liebling“, hört er ihre Stimme aus der Küche. „Das ging aber schnell beim Arzt. Du musst dich noch ein wenig gedulden, das Essen ist in zwanzig Minuten fertig.“ Der Kopf Tanjas erscheint im Türrahmen. Lange, blonde Haare umrahmen ihr hübsches Gesicht. Ihre blauen Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, als sie bemerkt wie er aussieht. „Du bist ja klitschnass und völlig außer Atem. Hattest du keinen Regenschirm dabei und wo ist dein Sakko?“, fragt sie besorgt.
„Vergessen“, erwidert er gleichgültig, „beim Arzt.“
„Wieso vergessen?“, ohne eine Antwort abzuwarten läuft sie zu ihm. „Du zitterst ja am ganzen Körper! Beeil dich, zieh die nassen Sachen aus“, sie knöpft ihm das weiße Hemd auf. „Geh unter die heiße Dusche, sonst holst du dir noch den Tod!“ Tanja haucht ihm einen Kuss auf die Wange. Sanft schiebt sie ihn in Richtung Badezimmer. „Lass dir ruhig Zeit, ich warte auf dich“, sagt sie augenzwinkernd zu ihm und wirft das Hemd in den aus Weiden geflochtenen Wäschekorb.
Als er allein ist schlüpft er aus seiner nassen Hose. Er lässt sie achtlos zu Boden fallen. Nachdem er sich seiner restlichen Kleidung entledigt hat, steigt er unter