»Das sollte dich nur an etwas erinnern. Ich hoffe es tut noch eine Weile weh!« Sie lächelt und streichelt sanft über die Stelle, an der sie mich zweimal so hart getroffen hatte.
Die Fahrt bis zum Eiffelturm ist nicht weit. Und ehe ich mich versehe, fahren wir an der Seine entlang mit Blick auf dieses riesige, aus Stahl gefertigte Bauwerk. Meine traurigen Gedanken sind verflogen und das Einzige was ich will, ist zur Spitze aufsteigen.
»Also, Cousinchen! Ich komme mit bis zur ersten Plattform, ab da kannst du dann alleine gehen.« Ich drehe mich zu ihr um. »Wieso? Der Ausblick muss doch wundervoll sein.« Versuche mal einer dieses Mädchen zu verstehen.
»Ja, ist er bestimmt auch. Viel Spaß « Das kann doch nicht ihr Ernst sein.
»Das heißt du warst noch niemals ganz oben?« Ich kann es nicht fassen.
»Nein. Aber du schaffst das schon! « Sie tätschelt mir die Wange und steigt aus dem Wagen. Ich sitze wie angewurzelt auf dem Sitz und kann es immer noch nicht fassen. Dieses Mädchen lebt ihr ganzes Leben lang in Paris und war noch nie auf der Spitze des Eiffelturms. Irgendwas scheint bei ihr kräftig schief gelaufen zu sein.
»Kommst du jetzt mein Trauerkloß oder was?« Sie hält mir ihre Hand hin und zieht mich aus dem Wagen. Ich bin überwältigt von dem Anblick, der sich mir bietet. Während Marguerite sich mit schnellen Schritten von mir entfernt, scheine ich wie erschlagen von all den neuen Eindrücken.
»Mal sehen, wer von uns schneller ist, du steifes Püppchen!« In einer rasanten Geschwindigkeit, renne ich an Marguerite vorbei und fordere sie zu einem kleinen Wettlauf auf.
»Püppchen! Eine Dame rennt nicht und vor allem nicht in der Öffentlichkeit.« Im Nu stehe ich in der Mitte der riesigen Plattform, genau unter ihm. Der Blick nach oben überwältigt mich erneut. Ich strecke meine Arme von mir und fange an mich zu drehen, den Blick senkrecht nach oben gerichtet. Ich kann mein Glück kaum fassen. Ich drehe mich immer schneller und lasse den Wind meine Haare in alle Himmelsrichtungen wehen. Es ist ein befreites Gefühl!
»Bist du fertig? Die Leute sehen schon alle her!« Marguerite reißt mich aus meinen Gedanken.
»Jetzt sei mal nicht so verbissen. Ich bin das erste Mal in Paris.« Endlich einmal ehrliche Worte aus meinem Mund. Zwischen Marguerite und mir scheint sich eine Art neckischer Schlagabtausch zu entwickeln. Irgendwie gefällt mir das.
»Es ist jetzt um zwei. Wir haben genau noch neunzig Minuten Zeit bis wir zum Nachmittagstee wieder zurück sein müssen.« Sie schaut prüfend auf ihre Armbanduhr, als stände sie unter großem Zeitdruck.
»Na dann lass uns keine Zeit verlieren, Cousinchen!« Und schon flitze ich weiter zum Eingang. Mein Enthusiasmus und die Vorfreude platzen nur so aus mir heraus. Marguerite ist peinlich berührt und meidet die Blicke der Leute um uns herum. Bis zur ersten Plattform ist es nicht weit, auf der wir uns trennen. Marguerite setzt sich in ein kleines Café und bestellt sich einen Kaffee. Auf der ersten Stufe zur zweiten Plattform, drehe ich mich nochmals zu ihr um. Sie tippt ungeduldig mit dem Finger auf ihre Uhr, den Blick nicht von mir abgewendet. Gott, ist dieses Mädchen nervend.
Ich brauche eine halbe Stunde bis zur Spitze. Doch der Anblick macht die Anstrengung wieder wett. Hier oben ist der Wind um einiges stärker, aber das ist mir egal. Ich komme mir vor, wie in einer anderen Welt. Als ich auf die weißen Dächer Paris’ schaue und mir klar wird wie groß und endlos diese Stadt ist, wird mir auch bewusst, wie schwierig es werden wird hier jemanden zu finden.
Mein liebster Bastian, wo bist du nur? Vielleicht ist es naiv von mir zu denken, dass er dasselbe für mich empfinden könnte wie ich für ihn. Aber die Hoffnung in mir, ihn wiederzusehen ist so stark wie nie zuvor. Ich will mich nicht mit dem Gedanken abgeben, nur diesen einen Tag mit ihm gehabt zu haben und mein ganzes Leben nicht zu wissen, was aus uns hätte werden können. Das Einzige, was ich weiß und das von Bedeutung ist, dass ich Gefühle für ihn hege und jede Minute an ihn denken muss. Es ist, als würde er mich die ganze Zeit über begleiten, nur dass ich ihn nicht sehen kann. Langsam merke ich, wie mich diese Stadt und die neuen Erfahrungen prägen und mich zu einer Frau werden lassen. Nur langsam, aber dennoch deutlich spürbar.
Nach einer gefühlten halben Stunde entscheide ich mich dafür Marguerite zu erlösen und steige wieder hinab. Als ich auf der ersten Plattform ankomme, steht Marguerite bereits mit verschränkten Armen und tippenden Fuß vor der Treppe und wartet.
»Es ist zehn vor halb drei! Meine Freundinnen kommen in einer halben Stunde zu mir nach Hause und wir müssen uns noch umziehen.« Umziehen? Wir haben doch schon tolle Kleider an. »Beeil dich!« Im Schnellschritt laufen wir zum Auto, wo Eleazar bereits auf uns wartet. Auf dem Weg zurück, redet Marguerite kein Wort mit mir. Ich scheine ihren Zeitplan ganz schön durcheinander geworfen zu haben. Als wir angekommen zerrt sie mich ohne Rücksicht und ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was ich von dieser ganzen Tortur halte, am Arm in ihr Zimmer.
In noch nicht einmal zehn Minuten, sucht sie uns beiden ein neues Kleid und Schuhe heraus, pudert mir das Gesicht und steckt meine Haare seitlich fest, sodass sie leicht zur Seite herunter fallen. Ihre Haare bleiben offen und fallen in leichten Wellen über ihren Busen. Sie scheint ihr Handwerk wirklich zu verstehen. Wir beide sehen toll aus!
»Eine Sache noch, Emilia. Ich muss dich warnen! Amelie und Valerie sind zwei gehässige, verzogene Biester, die dich wenn sie wollen in der Luft zerreißen. Also sag bloß nicht zu viel und lach' einfach über jeden ihrer Witze. Sie halten sich für unheimlich komisch! Alles klar?« Sie scheint richtig besorgt um mich zu sein. Aber wenn ich mit Marguerite zurecht komme, werden die beiden ein Kinderspiel sein. »Ich denke ich bekomme das hin!«
Von unten ertönt ein Klingeln, was bedeutet, dass Pest und Cholera eingetroffen sind. Oh, das war ganz schön hart! Aber, wenn man Marguerites Worten Glauben schenkt, muss ich das wohl auch sein. Wir begeben uns nach unten, wo die zwei uns schon erwarten.
»Salut, meine Damen!« Marguerite begrüßt die beiden mit zwei Küsschen auf die Wange. Das scheint hier wohl so Mode zu sein. »Darf ich euch vorstellen, meine Cousine Emilia Rosenberg aus Deutschland.« Die beiden mustern mich und ich fühle mich dabei deutlich unbehaglich.
»Hoch erfreut, meine Damen!« Ich reiche ihnen beide vornehm meine Hand und mache einen kleinen Knicks.
Beinahe gleichzeitig antworten sie mir »Hocherfreut!« Marguerite geleitet uns in das Esszimmer, wo bereits Tee und Kaffee sowie verschiedene Biskuits aufgetischt wurden sind. Die zwei Hausmädchen von gestern Abend und heute Früh stehen ebenfalls an ihrem Platz und warten darauf uns zu bedienen. Marguerite und ich sitzen nebeneinander. Pest und Cholera nehmen gegenüber von uns Platz. Sogleich wird uns Kaffee eingeschenkt und ich falte meine Serviette auf dem Schoß aus.
»So ihr zwei! Was habt ihr zu berichten? Welche Geheimnisse habt ihr wieder einmal aufgedeckt?« Marguerite scheint wieder ganz in ihrer Rolle als biestige, reiche Tochter aufzugehen.
»Unser Lieblingsopfer Rosi hat es letzte Nacht wieder einmal wild getrieben.« Alle drei beginnen zu kichern. Diese Rosi scheint ihnen des Öfteren Gesprächsstoff zu liefern.
»Wen hat sie diesmal mit nach Hause genommen?« Oh, jetzt wird es interessant.
»Der arme Philipp musste dran glauben!« Valerie wirft Marguerite einen seltsamen, vorwurfsvollen Blick zu. Sie scheinen irgendetwas zu verbergen.
»Philipp! Ich dachte er hätte mehr Niveau.« Marguerite nippt an ihrem Kaffee und scheint verstimmt. »Habt ihr sonst noch jemanden im Le Regine getroffen?« Sie scheint auf irgendjemand Bestimmtes abzuzielen. Vielleicht ihren verheirateten Liebhaber?
»Die üblichen Verdächtigen!« Valerie und Amelie werfen sich einige vielsagende Blicke zu, Marguerite schenkt den beiden jedoch nur wenig Beachtung.
»Was ist das für eine Bar?« Mal sehen, ob ich die Stimmung etwas auflockern kann. »Hört sich interessant an.« Auch ich nippe vornehm an meinem Kaffee und versuche