Glücksspiel. Hans W. Schumacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans W. Schumacher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847655022
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      "Na, soweit wollte ich nicht gehen. Aber die Aufzeichnungen haben keine Jahreszahl. Sie könnten auch vom letzten, vorletzten, was ich weiß ich, von welchem Jahr stammen. Das Ganze kann auch schlicht phantasiert sein, vielleicht ist es der Anfang einer Geschichte, die diese Frau schreiben wollte."

      "Die letzte Eintragung trägt immerhin das Datum vom letzten Mittwoch."

      "Purer Zufall!"

      "Aber Dupont schien ehrlich bekümmert über das Schicksal des Mädchens, wahrscheinlich ist er verliebt in sie. Sie war seiner Ansicht nach doch eine Kollegin. Normalerweise sind Leute, die verstiegene Theorien vortragen, persönlich an den Fällen gar nicht interessiert, es geht ihnen nur darum, sich selbst in den Vordergrund zu spielen, sich wichtig zu machen."

      "Er machte mir genau diesen Eindruck. Wie er mit seiner Bildung prahlte, er wollte uns doch nur beweisen, daß wir alle Banausen sind."

      "Lassen wir das zunächst dahingestellt sein. Da dies der erste und einzige Hinweis zu unserem Fall ist, müssen wir ihm nachgehen, so seltsam er uns auch vorkommt. Wer das Phantastische verwirft, ist kein Realist."

      "Chef, jetzt übertreiben Sie wieder schamlos."

      "Das war ein Zitat!"

      Renard schob Aktenbündel auf dem Tisch herum, als wollte er dort gleichzeitig ebenso Ordnung schaffen wie in seinen Gedanken:

      "Also gut, wir machen folgendes: Sie hängen sich jetzt ans Telefon, versuchen die Concierge der Rue B éranger 11 zu erwischen und fragen sie über diese Armida Cecchini aus, wann zum letzten Mal gesehen, wie gekleidet usw., wenn sie nicht zu erreichen ist, gehen sie selbst hin, fragen Hausbewohner nach ihr, klingeln auch an der Wohnungstür, vielleicht ist sie ja wieder aufgetaucht. Sollte dort bis, sagen wir, in einer Woche niemand sein, beschaffen wir uns einen Durchsuchungsbefehl und brechen dort ein. Sehen Sie auch einmal die Vermißtenkartei durch. Wann wird der Leichenbeschauer seinen Bericht liefern?"

      "Er sagte mir, morgen gegen Mittag. Soll ich sofort loszittern, Chef?"

      "Na, was denken Sie?"

      Inspektor Laffitte dachte, daß er erst einmal ausgiebig frühstücken würde, er war schon seit 6 Uhr morgens im Revier und dabei war Sonntag. Daß diese Mörder aber auch nie Rücksicht auf die Amtsstunden nahmen! Danach war noch Zeit genug, um diesen Spinnereien nachzugehen.

      Kapitel 2

      Dupont wäre auf der Heimfahrt in der Metro fast eingeschlafen, so zerschlagen war er nach dem Gespräch mit dem Kommissar. Die Enttäuschung nagte an ihm. Mein Gott, diese Polizisten waren doch tatsächlich so borniert, wie sie Poe beschrieb, seit 150 Jahren hatte sich nichts geändert. Er schleppte sich von der U-Bahn nach Hause, stieg die knarrenden vier Treppen hoch und ließ sich im Wohnzimmer aufs Sofa fallen. Die Sonne warf leuchtende Flecken auf das Parkett, ein warmer Sommerwind bewegte die Tüllgardinen. Er nahm einen Schluck kalten Kaffee, ließ ihn durch die trockene Kehle rinnen und dachte nach. Plötzlich lächelte er triumphierend. Der Kommissar wollte stärkere Beweise, er würde sie bekommen. Er stand auf, ging in die Küche, zog eine Schublade auf, entnahm ihr eine Zange und ein Stück starken Draht. Am Tisch sitzend bog er ihn zurecht, bis er gut in der Hand lag, dann probierte er den Dietrich an der Zimmertür aus, das Klicken des Schlosses erfüllte ihn mit Stolz. Er war nicht nur ein exzellenter Detektiv, er würde auch einen guten Einbrecher abgeben!

      Er ging hinunter und betrat das Nachbarhaus. Zum Glück war die Concierge nicht in ihrer Loge, er huschte behend die Stufen hinauf, begegnete auch niemand. Es war bald Mittagszeit, aus allen Wohnungen drangen Küchendünste. Geräuschlos erklomm er die letzte düstere Stiege zum Dachgeschoß, die stickige Luft wurde von einem einzigen goldenen Lichtstrahl durchschnitten, in dem Sonnenstäubchen blitzten. Er wagte kaum zu atmen. Er suchte im Halbdunkel das Türschild und fand es: A. Cecchini. Er drückte ein Ohr an das Holz, nichts war zu hören, nur der Wind, der um das Dach wehte. Der Dietrich drehte sich knackend, er suchte den richtigen Druckpunkt, der Widerstand gab nach, die Pforte öffnete sich, er trat in einen Flur, von dem vier Türen zu Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer abgingen. Er kannte die Anordnung der Räume aus seinem eigenen Mietshaus.

      Obgleich er überzeugt war, daß niemand da war, ging er auf Zehenspitzen über den Flurteppich, trat in die merkwürdigerweise sauber aufgeräumte Küche ein und suchte: keine tote Maus, keine Blutflecken, nichts. Er fröstelte, seine Handflächen wurden feucht. Er war so sicher gewesen, der Kommissar hatte mit seiner Skepsis doch recht gehabt.

      Aber es blieb noch eine Chance: die Lektüre. Er schlich ins Wohnzimmer und sah einen Bücherschrank vor sich. Er begann systematisch oben links und arbeitete sich allmählich nach unten durch. Offenbar waren die Bände chronologisch geordnet, auf dem obersten Brett stand die neueste Literatur: Moravia, Pavese, Morante, Anouilh, Sartre, Hemingway, danach kam das 19., Manzoni, Carducci, Leopardi, Balzac, es folgte das 18. Jahrhundert, er kauerte sich nieder, aber als er unten rechts anlangte, hatte er das Gesuchte nicht gefunden. Seine Hände zitterten, sein Mund schmeckte sauer. Ihm wurde fast übel. Er richtete sich auf, schloß die Schranktüren und sah sich um.

      Auf dem leeren Schreibtisch neben dem Fenster lag ein kleines ledergebundenes Buch. Er ging, eine neue Enttäuschung erwartend, langsam hinüber, nahm es in die Hand, hielt den Buchrücken vor seine Augen, und sein Herz krampfte sich vor Entzücken zusammen: Tasso: La Gierusalemme liberata entzifferte er die kleinen verblaßten Goldlettern. Seine Schläfen pochten, er setzte sich auf den zierlichen Sessel vor dem Schreibtisch und schlug den Quartband auf. Auf dem Vorsatzblatt stand eine Widmung in blauer Tinte: Dir, Armida, mit herzlichen Glückwünschen von Deiner Alida. Dann kam das reich verzierte Titelblatt mit Verlagsort und -jahr: Pavia 1860. Er betrachtete die vergilbten Kupferstiche. Da waren sie: Goffredo in seiner glänzenden Rüstung, Armida, die schöne Fee mit halbkugelförmigen weißen Brüsten in ihrem Palmengarten, Rinaldo auf einem Schlachtroß, Tancred sein Schwert schwingend, wahrhaftig keine Maus, stark wie ein Löwe, Rinaldo in nichts nachstehend.

      Es war still im Zimmer, nur zuweilen hörte er ein sanftes, undefinierbares Geräusch. Das war wohl der Wind, der um die Mansardenfenster strich. Ihm wurde ängstlich zumute, es war, als ginge der Geist der Toten seufzend durch die verlassenen Räume. Er steckte das Buch in die Innentasche seiner Jacke. Er würde noch das Schlafzimmer in Augenschein nehmen und dann verschwinden. Er betrat wieder den Flur und drückte die Klinke der Schlafzimmertür nieder. Der seltsame hechelnde Laut verstärkte sich, als er sie weiter öffnete.

      Ein gellender Schrei zerriß die Luft. Er wußte nicht, ob er ihn ausgestoßen hatte oder Armida: sie lag nackt auf dem Bett in den Armen eines nackten, braungebrannten Mannes. Dupont starrte auf ihre Brüste, dann in ihre vor Schreck geweiteten Augen.

      "Du bist tot, du mußt doch tot sein!" schrie es in ihm. Der Mann richtete sich zwischen den Schenkeln der Frau auf und durchbohrte ihn mit einem wütenden Blick. Oh Gott, das war ja Vlassens! Henri wandte sich zur Flucht, den Dietrich in der Hand, als könnte er sich nicht von ihm trennen.

      Er stolperte der Wohnungstür zu, aber bevor er sie erreichen konnte, fühlte er einen Schlag auf den Hinterkopf, der ihm schwarz vor Augen werden ließ. Er kippte nach vorn, schlug mit der Stirn gegen die Wand, es dröhnte in ihm, und er rutschte langsam zu Boden. Ein grauer Kater und eine weiße Maus irrlichterten durch sein schwindendes Bewußtsein.

      Da gellte die Türglocke.

      Vlassens, der mit einer kleinen Bronzefigur bewaffnet, nackt über dem Körper Duponts stand, zuckte zusammen. Die Frau, die sich inzwischen einen Morgenrock übergeworfen hatte, nickte ihm stumm zu, er verstand, sie mußten den Eindringling verbergen.

      Es klingelte wieder, und eine Stimme tönte: "Aufmachen, Polizei!"

      Entsetzen überflog ihr Gesicht, sie packte Duponts Beine, er griff unter seine Achseln und gemeinsam schleiften sie ihn ins Schlafzimmer. Vlassens ließ sich aufs Bett fallen und versuchte zappelnd die Beine in seine Hose einzufädeln, die Frau schloß leise die Tür, als wieder ungeduldig die Klingel tönte. Laffittes Stimme donnerte: "Polizei! Aufmachen oder wir treten die Tür ein!"

      Die