Dr. Vlassens war Jurist und in der Gesellschaft hoch aufgestiegen, aber das hatte seinem Charakter geschadet. Er hatte sich einen hochfahrenden Ton gegenüber den mittleren und unteren Angestellten angewöhnt, der schlicht unerträglich war.
Aber Kleinvieh macht auch Mist. Wenn Henri an all diese angeblichen Wasserschäden, angebrannten Teppiche, in der Reinigung verdorbenen Pelze dachte, es summierte sich. Er hätte mit seinem analytischen Verstand solche Halunken sofort an Ort und Stelle überführen können, aber man ließ ihn ja nicht. "Ihr Platz ist im Büro," bestimmte Dr. Vlassens, der Henri bei der Berichterstattung nicht einmal einen Stuhl anbot, "für solche Aufgaben haben wir unsere speziell ausgebildeten Detektive."
"Aber," versuchte Henri einmal aufzubegehren und fixierte seinerseits den schönen Justitiar, der die Leute mit seinem Adlerblick in Schach zu halten pflegte, "sich bewußt düpieren zu lassen, ist doch einfach unmoralisch, nicht nur weil die Rechnung die ehrlichen Versicherungsnehmer zahlen müssen, sondern prinzipiell."
Der große Mann antwortete: "Wir sind doch keine Besserungsanstalt, sondern ein Wirtschaftsunternehmen. Das heißt," belehrte er seinen Untergebenen, "unsere Maxime ist Minimierung unseres Risikos - lesen Sie einmal genau das Kleingedruckte - und Vergrößerung des Gewinns. Wir ködern Versicherungsnehmer, indem wir bei kleinen Summen großzügig sind, das schafft Vertrauen: sie kaufen auch noch andere Versicherungen bei uns ein, so gewinnt man Kunden. Bei größeren Beträgen schauen wir ihnen auf die Finger."
Henri zweifelte bei solchen Reden am höheren Sinn seines Berufs. Die Versicherung war ja eine segensreiche und menschenfreundliche Einrichtung, aber sie trat auch zwischen den Menschen und die Wirklichkeit. Für ein regelmäßig entrichtetes Geldopfer brauchte niemand das Mißgeschick mehr zu fürchten, keiner für den Mist, den er machte, selbst geradezustehen. Die Lebensversicherung zum Beispiel war noch grotesker: sie machte aus dem Dahinscheiden eines lieben Angehörigen einen Segen für die trauernden Hinterbliebenen, ja, sie stellte sogar eine ständige Versuchung für sie dar, wenn der Versicherte zu sehr am Leben hing.
Er sah über die noch taufeuchten Dächer hinweg auf die ferne Silhouette des Eiffelturms und den Hügel von Montmartre. Er beglückwünschte sich jeden Tag zu diesem Ausblick. Aber das Beste war doch die Sicht auf das schräg über ihm liegende Mansardenfenster des Nachbarhauses, zu dem eben eine silbergraue Katze von der Regenrinne aus hinaufstieg und mit dem Kopf mauzend gegen die Scheibe stieß. Dupont erwartete, daß nun ein hübsches Mädchen öffnen und sie in ihre Arme nehmen würde, aber es geschah nichts. Die Katze fuhr mit der Pfote am Fensterspalt entlang, mauzte wieder, setzte sich, begann ihren Latz zu glätten und trieb die Fellpflege bis an die Hinterbeine vor. Als Dupont sein Fenster öffnete, zuckte sie zusammen, hielt inne, ließ die rosige Zunge langsam hinter die Lippen gleiten und sah mit gelbem Blick auf ihn hinunter, wobei sie den bearbeiteten Schenkel weit über das Fensterbrett hinausstreckte.
"Renaud," flüsterte Dupont, "was ist los? Wo ist Armida?" Der Kater sah ihn gleichmütig an und vertiefte sich wieder in sein Fell. Hinter den spiegelnden Scheiben rührte sich nichts. Dupont wurde bewußt, daß es seiner seelischen Lage angemessen war, zu seufzen, und er seufzte, schob das Buch beiseite, griff zerstreut nach der Morgenzeitung und schüttelte sie auf: Regierungskrise in England, Die Waffenstillstandsverhandlunge in Genf dauern an, Der Dollar fällt, Immobilienpreise in Paris steigen, Liebe im Fernen Osten...Die Zeitung flatterte zu Boden. Er starrte einen Augenblick auf den Teller vor sich, sprang plötzlich auf, lief ans Fenster und beugte sich hinaus. Die Katze war verschwunden. Die Scheiben glitzterten böse. Sein Kummer überfiel ihn so heftig, daß er den Kopf nach hinten an die Wand lehnte und zwei Tränen weinte, die an seinen Wimpern hängen blieben. Er schloß die Augen.
Sie hieß Armida Cecchini, ihr Ressort war die Korrespondenz mit Italien. Mittags aß sie stets am gleichen Tisch in der hintersten Ecke der Kantine allein oder mit einer Kollegin, aber nie hatte er gewagt, sich ihr zu nähern, er sah auch, daß sich selten ein Mann zu ihr setzte. Auch Vlassens, der keinen Weiberrock in Ruhe lassen konnte, hatte es zwei Mal versucht, aber dann hatte er es wohl aufgegeben. Wahrscheinlich hatte sie ihn nachhaltig abblitzen lassen. Sie schien mit ihrer zarten Schönheit eine Distanz um sich zu schaffen, die auch die gallischen Hähne unter den Mitarbeitern, die stets mit einem frechen Witz bei der Hand waren, zu respektieren schienen. Und Henri war zu schüchtern, sie anzusprechen, obwohl sie den gleichen Heimweg hatten. Er wünschte ihr guten Tag, wenn er sie am Fenster sah, und sie nickte ihm freundlich zu, das war alles. Wenn er hinter den Gardinen beobachtete, wie sie den Kater in die Arme nahm, zitterten ihm die Hände, ihm war, als wäre er selbst das Wesen, das sich schnurrend an ihren Busen schmiegte und den dicken Kopf an ihrer Schulter rieb. Er war in Renaud fast ebenso verliebt wie in sie. Er hätte ihn gern gestreichelt, so wie sie ihn liebkoste, dann fühlte er seinen weichen Pelz gleichsam mit ihrer Hand.
Sie kleidete sich mit dem sicheren Geschmack der Italienerinnen. Oft sah er sie im gleichen schlicht eleganten Kostüm in den Fluren der Firma vor sich hergehen, beschwingt und doch wie in einen Traum gehüllt, ein Zauber umgab sie, der ihm jedes Wort im Mund abschnitt. Er war stumm vor Liebe.
Wo blieb sie nur? Sonst öffnete sie das Fenster immer zur gleichen Zeit morgens, wenn der Kater mit der Regelmäßigkeit einer Uhr an die Scheiben pochte. Das war Henris Signal, er stand hinter der Gardine und sah wie eine Zauberin die Pforten zu ihrem Paradies öffnete.
Er ging ratlos an den Tisch zurück und raffte die am Boden liegenden Zeitungsblätter auf. Mord aus Eifersucht? las er auf der letzten Seite:
Kurz vor Redaktionsschluß erreichte uns noch folgende Mitteilung der Kriminalpolizei: Gestern, Samstag, gegen 22, 45 Uhr fand ein Nachtwächter auf einer Großbaustelle in der Rue Béranger die Leiche einer weiblichen Person auf, die, wie die ärztliche Untersuchung erwies, durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Hinterkopf getötet wurde. Ihr Gesicht ist durch weitere Schläge völlig entstellt worden. Bei der Toten wurden außer einem Portemonnaie mit Geld in französischer und italienischer Währung und einem kleinen Notizbuch mit den auf den Einband gedruckten goldenen Initialen A.C., das der Aufmerksamkeit des Mörders entgangen sein muß, da es in einer ungewöhnlichen Innentasche der Kostümjacke steckte, keine Gegenstände gefunden, die eine Identifizierung ermöglichen könnten. Einzig die in italienischer Sprache geschriebenen Aufzeichnungen in dem Büchlein, die im folgenden in Übersetzung abgedruckt werden, liefern Hinweise auf das Drama, das dem Mord eventuell vorausging. Es scheint sich um ein Eifersuchtsdelikt zu handeln. Zuständig für die Untersuchung ist Hauptkommissar Renard, Revier VII, 16, Bd. Montparnasse, Paris XIe. Tel.: Montparnasse 4567. Wer kennt die Tote? Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.
Personenbeschreibung: Alter: Mitte zwanzig, Größe 1,70 m, Gewicht 52 kg. Haarfarbe hellblond, Augen graublau,.... Die Kleidung: ....
Dupont las mit erschreckt geweiteten Augen, dann betrachtete er das unklare, grobgerasterte Foto der Leiche, ihm war, als habe er einen Tritt in die Magengrube erhalten, sein Blick wurde trüb, in seiner Nase kribbelte es, als müsse er niesen:
4.5. Heute früh steckte jemand den Kopf zur Tür herein. Ich schrak zusammen, und er verschwand wieder. Nachher mußte ich immer wieder an sein schönes,