"In Poes berühmter Kriminalgeschichte Die Morde in der Rue Morgue...."
"Was, hier in Paris?" Renard zeigte sich interessiert.
"Ja, hier in Paris, also in dieser Geschichte geschieht ein unheimlicher, rätselhafter Mord an zwei Frauen, Mutter und Tochter. Nachbarn hören entsetzliche Schreie, als sie vergeblich versuchen, den beiden zu Hilfe zu kommen, denn die Tür ist von innen verschlossen, hören sie zwei weitere Stimmen, die eines Landsmanns und eine schrille, unartikulierte Stimme, die man einem Ausländer zuschreibt, aber jeder Zeuge hört eine andere Sprache heraus. Als die Polizei die Tür aufbricht, sieht man ein chaotisches Durcheinander, alle Möbel sind zerbrochen, niemand ist im Raum, die Fenster sind zugenagelt. Nach längerem Suchen findet man die Opfer: Mutter und Tochter in gräßlich verstümmeltem Zustand von unten in den Kamin hineingezwängt. Entkommen sind der oder die Täter durch das Schiebefenster, das nur scheinbar zugenagelt war. Zwar waren die Nagelköpfe zu sehen, aber die Nägel waren in der Mitte durchgerostet und nach dem Entkommen des Täters aus dem vierten Stock war das Fenster wieder zugefallen. Die Polizei steht, da sie das nicht erkennt, vor einem unlösbaren Rätsel. Dupin, ein Amateurdetektiv, kommt nach Prüfung aller Indizien zu dem Schluß, daß der Doppelmord nicht von menschlicher Hand begangen werden konnte. Er schließt aus alle dem, daß nur ein Affe - es war tatsächlich ein Orang Utan - mit seiner Körperkraft und Klettergeschicklichkeit, die Tat begangen haben konnte. Er findet dann auch den Besitzer des Tiers, einen Matrosen, dem der Affe entlaufen war. Er hatte ihn die Fassade ersteigend verfolgt, der Orang Utan war in das Zimmer der beiden Frauen eingedrungen, hatte sie getötet und in den Kamin gestopft, sich dann aber von seinem Herrn wieder bezähmen lassen, worauf sie beide gemeinsam das Zimmer durch das Fenster verließen, das hinter ihnen zufiel. Der Matrose, der Angst hatte, für die Tat seines Tiers verantwortlich gemacht zu werden, trat die Flucht an, aber Dupin spürte ihn auf."
"Doll," bekannte Renard überrascht, "aber das ist Literatur. Hier geht es um die Wirklichkeit."
"Ich habe auch weniger Phantastisches bemerkt: das Kostüm, das die Tote anhatte, scheint mir das zu sein, das Armida Cecchini zu tragen pflegte."
"Aber es ist leider kein Einzelstück. Davon gibt es Hunderte. Eine Kollegin hat mir das gesagt. Frauen kennen sich da aus. Vielleicht wäre es besser, Sie sähen sich einmal die Polizeifotos der Toten an, das Bild in der Zeitung ist zu undeutlich." Er zog aus einem Aktenhefter einige Hochglanzbilder, wollte sie ihm hinüberreichen und zögerte:
"Glauben Sie, Sie können es aushalten? Da kann sich einem, der das nicht gewohnt ist wie wir, der Magen umdrehen."
Henri blickte einen Augenblick lang auf seine Fußspitzen, hob den Kopf und sagte tapfer: "Geben Sie her!"
Er betrachtete die großen Farbfotografien. Nur das Bild, das sie nackt zeigte, steckte er sofort unter die anderen. Es würgte ihn in der Kehle. Das Gesicht war nur eine blutige Masse, die zerzausten Haare hatten die ihm bekannte Farbe und Länge. Er musterte lange die Wiedergabe des bekleideten Körpers, aber das Kostüm war farblich doch anders als in seiner Erinnerung, nur der Schnitt war ähnlich.
"Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher mit dem Kleid," sagte er, "aber Figur und Haarfarbe sind gleich."
"Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?"
"Die Initialen A.C. auf dem Notizbuch."
Renard blickte anerkennend auf seinen Besucher: "Das ist ein starkes Argument!"
Laffitte wandte ein: "Aber es gibt doch Tausende von Namen mit den gleichen Anfangsbuchstaben."
"Klar. Doch wenn dies zu anderen Indizien hinzukommt, kann es zur Erhärtung eines Beweises beitragen. Die Menge muß es machen. Nur ganz selten führt eine einzelne Spur für sich zum Erfolg ."
"Das Wichtigste sind die Namen: Armida, Tancredi, Rinaldo. Wissen Sie, wo die herkommen, wie sie zusammenhängen?" fuhr Henri fort.
"Sie werden es uns sagen! Bestimmt wieder aus der schönen Literatur."
"Richtig! Denken Sie daran: meiner Ansicht handelt es sich um eine Italienerin. Als Dolmetscherin hatte sie eine Universitätsausbildung. Sie kannte deshalb gewiß das italienische Nationalepos Das befreite Jerusalem von Torquato Tasso."
"Ich wette, ein ziemlich alter Schinken."
"Klar, aus dem 16. Jahrhundert. Und in diesem Schinken geht es um zwei Helden, die in den Kampf Gottfried von Bouillons um die Befreiung Jerusalems aus arabischer Hand verwickelt sind: Rinaldo und Tancredi und um eine schöne heidnische Hexe Armida, die in ihrem Zaubergarten residierend, die Helden wie Circe oder Delilah zu umgarnen versucht, damit sie sich nicht in die Schlacht gegen die Heiden werfen. Und Fräulein Armida Cecchini besitzt, besaß, eine Perserkatze namens Renaud, italienisch Rinaldo, ich kann sie Ihnen zeigen."
"Und sie hört auf diesen Namen?"
Dupont wurde unsicher, Katzen hören eigentlich auf nichts und niemand.
"Vielleicht," meinte er und wurde auf einmal rot.
"Gibt es andere Zeugen für Ihre Beobachtungen?"
"Sicher. Man muß sie finden, man wird sie gewiß finden, wenn man am richtigen Ort sucht."
"Haben Sie noch weitere Hinweise?"
Henri zögerte mit der Antwort: "Im Moment noch nicht. Ich dachte, es sei wichtiger, Sie schnell zu informieren. Aber wenn Sie die Wohnung der Toten durchsuchen oder an ihrem Arbeitsplatz nachfragen würden, werden sie noch mehr Indizien finden, als ich Sie Ihnen jetzt liefern kann, da bin ich sicher."
"Gut," sagte Renard, der innerlich darüber lächelte, daß ihn ein Laie über Polizeiarbeit belehren wollte, und erhob sich, "Sie haben uns sehr geholfen. Wir werden uns darum kümmern. Sie hören vielleicht noch von uns, wir haben ja Ihre Adresse."
"Ja, dann auf Wiedersehen," sagte Henri schleppend, es kam ihm vor, als nehme man ihn nur zum Schein ernst, um sich nachher wieder ausgiebig vor Lachen ausschütten zu können.
"Ich bin nicht so verrückt, wie ich scheine, ich bin Versicherungsmann, man kann mir nichts vormachen. Ich bin auch kein Grünschnabel, trotz meiner jungen Jahre."
"Natürlich," der Kommissar geleitete ihn, seinen Unterarm in der Hand haltend, sorglich aus dem Büro, "wir werden uns das, was Sie zu Protokoll gegeben haben, durch den Kopf gehen lassen. Wir sind auch keine heurigen Hasen und ebenfalls nicht mehr so grün, eher schon grau."
Henri sah sich zu ihm um und begegnete seinem Lächeln mit einem zutraulichen Blick, aber als er genauer hinsah, erkannte er einen harten Zug unter den Lachfältchen der Augen und um den Mund und zuckte zurück. Nein, der war nicht überzeugt, der tat nur freundlich, um ihn loszuwerden!
Nachdem der Kommissar Dupont hinausgeleitet hatte, kehrte er in sein Dienstzimmer zurück, wo der lange Laffitte mit ausgestreckten Beinen und hinter dem Kopf verschränkten Händen den Stuhl dem Schreibtisch gegenüber eingenommen hatte. Er grinste von einem Ohr zum anderen.
"Mann, Chef, mir sind ja schon viele Spinner untergekommen, aber der schlug wirklich alle Rekorde."
"Meinen Sie?" fragte Renard trocken und schaute über des Sergeanten Kopf starr auf die Kurve der Kriminalstatistik, die an die Wand zwischen den Aktenschränken geheftet war.
"Aber Chef, das sind doch Hirngespinste! Lesen Sie doch den Text, der handelt von Menschen, nicht von Tieren."
Renard blätterte in dem Notizbuch herum: "Sind Sie da so sicher? Wenn man es mit seinen Augen sieht, kann man tatsächlich seine Version herauslesen. Wer das geschrieben hat, war träumerischer poetischer Natur: 'Die Helle im Gewitter. Vom Wind gebeugte Pappeln. Der Duft von Regen und Staub.' Kennen Sie das nicht auch, erst die heftigen warmen Windstöße, wenn im Sommer ein Gewitter losbricht, dann ist alles schwarz, plötzlich gleißend hell, das Gewölk bricht auf, die heiße Erde dampft...?"
"Na, Chef, jetzt