Mit jedem weiteren Tag wurde Aret unruhiger. Er wollte die Pausen verkürzen und länger reiten, bevor sie wieder ein Lager aufschlugen. Milia war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Er hatte es offensichtlich eilig, irgendwo anzukommen, doch ob es eine weitere Oase war, die er wegen der zur Neige gehenden Wasservorräte aufspüren wollte oder womöglich das Ziel ihrer Reise, wusste sie nicht. Mittlerweile kreisten Milias Gedanken sehr oft um das Ende dieser Entführung und den Sinn dieses Höllenritts durch die Wüste. Aret musste irgendwo ein Versteck haben, in das er sie bringen würde, um dann in Verhandlungen mit ihrer Familie zu treten. Jedenfalls hoffte sie inständig, dass es so geschehen würde und ihr Entführer nicht etwa plante, sie für immer bei sich zu behalten.
Sie hatten fünf Tage und Nächte in der Wüste verbracht, als Aret plötzlich die Karawane am Rande einer langen Felswand zum Stehen brachte. Bedächtig stieg er von seinem Kamel ab und bedeutete Ebo, auf Milia aufzupassen und ruhig zu sein. Er schien etwas bemerkt zu haben, was ihr in der ewig gleichbleibenden Trockenheit nicht aufgefallen war. Vorsichtig schlich Aret an dem glatten Felsen entlang, bis zu einem Spalt, in den er verschwand. Erst drangen keine Laute zu Ebo und Milia, nur der Wind blies sanft über den Sand, wodurch ein leises Murmeln entstand.
Plötzlich Geräusche.
Gelächter? Ausrufe der Freude?
Milia und Ebo sahen sich verwirrt an. Was geschah dort hinter den Felsen? Auf wen war Aret getroffen?
Nach einiger Zeit kam Aret wieder, doch er war nicht allein. Ihm folgten fünf Männer, in lange helle Umhänge gekleidet und mit einem Turban um den Kopf, der bis auf ihre Augen nichts freiließ. Zielstrebig kamen sie auf Milia und Ebo zu. Die ganze Szene wirkte äußerst beunruhigend auf sie. Wenn von ihnen die freudigen Rufe kamen, die sie vorher gehört hatten, mussten es Freunde von Aret sein. Und damit womöglich auch Teil ihrer Entführung. Sie strahlten eine merkwürdige Bedrohlichkeit aus, eine Stärke und Geschicklichkeit, die Milia klar vor Augen führten, wie sehr sie ihnen unterlegen war.
Die Fremden griffen nach den Zügeln der Kamele und führten sie mit sich. Aret ging neben Ebo her und flüsterte ihm etwas zu. Wegen des Turbans konnte Milia keine Gesichter sehen oder Gefühlsregungen erkennen. Als sie um den großen Felsen herum gekommen waren, sah Milia ein kleines Lager aus Zelten, einige Kamele, ein Lagerfeuer und einen Brunnen, dem die Bedingungen der Wüste sichtlich zugesetzt hatten. Dennoch funktionierte er, denn zwei weitere Männer, die in die gleiche Kluft gekleidet waren wie die Freunde von Aret, schöpften aus ihm Wasser.
Aret half Milia aus dem Sattel des Kameles und brachte sie in die Mitte des Lagers an ein kleines Feuer. Dort wurde ihr von einem fremden Mann ein Tonbecher gereicht, gefüllt mit einem stark duftenden Tee. Auch wenn keiner zu ihr sprach, benahmen sie sich äußerst zuvorkommend. Ihr Verhalten gegenüber Ebo jedoch schockierte Milia.
Zwei der Fremden hatten ihn an den Armen gepackt und zu einem anderen Mann gebracht, der Ebo seinen Turban abnahm. Kritisch beäugte er den schwarzen Hünen, während Aret einige Worte zu ihm sagte. Schließlich bemerkte er das Amulett, dass Fara kurz vor ihrem Tod Aret gegeben hatte, der es wiederum Ebo überreicht hatte. Ehrfurchtsvoll drehte der fremde Mann den Anhänger zwischen seinen feingliedrigen Fingern, dann nickte er fast unmerklich und flüsterte einige Worte. Die zwei anderen, die Ebo an den Armen gepackt hatten, brachten ihn in die Nähe des Feuers, sodass Milia ihm in die Augen blicken konnte. Einer der beiden fesselte seine Arme hinter seinem Rücken, während der zweite Ebos Augen mit einem feinen Tuch verband und ihm danach wieder locker den Turban anlegte. Der letzte Blick ihres ehemaligen Sklaven, den Milia sah, war voller Hilflosigkeit und Angst.
„Wieso tut ihr das“, fragte Milia Aret, als er sich neben sie setzte und ebenfalls einen Becher mit Tee gereicht bekam. Warum verbanden sie ihm die Augen und fesselten ihn wie einen … wie einen Sklaven. Milia fühlte sich schlecht bei dem Gedanken, dass Ebo, der die Freiheit gesucht hatte, wie ein Tier in Ketten gelegt wurde.
„Er darf ihre Gesichter nicht sehen“, antwortete Aret leise und nahm einen Schluck Tee.
„Aber sie tragen doch diese Schleier“, widersprach Milia. Zudem machten die anderen Männer ebenso wie Aret keinerlei Anstalten, ihre Gesichter zu entblößen.
Aret schnaubte kurz. War es Resignation? „Er darf auch den Weg nicht sehen.“
Bevor Milia wieder etwas sagen konnte, fuhr er fort: „So will es das Gesetz. Er ist keiner von uns.“
Sie überlegte. „Ich dachte, er wäre dein Helfer bei meiner Entführung.“
Traurig blickte Aret in die Wüste. „Nein.“
Einige der anderen Männer hatten sich nun ans Feuer gesetzt und begannen, einen Teig zu kneten, den sie anschließend in den heißen Sand unter dem Lagerfeuer eingruben. Ebo verhielt sich ganz still. Nach einiger Zeit ging Milia zu ihm und legte ihre Hand auf seine Schulter. Er erschrak.
„Keine Angst, ich bin es nur.“ Sie legte ihren Becher an seine Lippen. „Trink etwas.“ Dankbar folgte Ebo ihrer Anweisung. Die anderen Männer beobachteten sie dabei genau.
Als es Abend wurde, unterhielten sich die Männer auf Arabisch. Milia blieb neben Ebo und gab ihm immer wieder zu trinken und zu essen. Die Männer schienen trotz ihrer Freude überrascht zu sein, Aret zu sehen. Immer wieder fassten sie ihn an Schulter oder Knie an, als wollten sie sich vergewissern, dass er wirklich vor ihnen saß. Als Aret Milias fragende Blicke bemerkte, erklärte er:
„Sie dachten ich wäre tot. Wenn sie mich berühren können, sind sie sich sicher, dass ich kein böser Geist bin, der sie täuschen möchte.“
Milia nickte langsam. Es waren zu viele Fragen in ihrem Kopf, angefangen bei den fremden Männern, in deren Lager sie aufgenommen wurden, bis hin zu Ebo und seiner Rolle bei ihrer Entführung.
Milia wurde von Aret unsanft aus dem Schlaf gerissen. Ein starker Wind zerrte an ihrem Zelt, das ihr ganz alleine zur Verfügung stand. Sie hörte Kamele unruhig schreien. Das Licht war diffus, so als wollte die Sonne langsam aufgehen, würde aber von einem Tuch verdeckt werden.
„Was geht hier vor“, fragte Milia schlaftrunken, als Aret Ebo zu ihr ins Zelt führte und den Eingang sorgfältig von innen verschloss. Die Augen und Hände von Milias ehemaligen Sklaven waren noch immer verbunden.
„Ein Habub zieht auf“, erklärte Aret, als er Milia dabei half, den Turban umzulegen und peinlich genau darauf achtete, dass ihr Mund und ihre Nase gut bedeckt waren.
„Was ist ein Habub?“ Das Getöse wurde immer lauter, sodass Milia beinahe schrie.
Aret überlegte kurz. „Ein Sandsturm. Der starke Wind wirbelt den Sand auf.“
Vor dem Zelt schrien die Kamele und auch menschliche Stimmen mischten sich darunter, die versuchten, die Tiere zu beruhigen. Als Aret bemerkte, dass Milia sich Sorgen machte, erklärte er: „Den Kamelen geschieht nichts. Sie müssen nur festgebunden werden, damit sie nicht weglaufen.“
Der Lärm wurde immer stärker. Dunkelheit brach herein, obwohl es Zeit für die Morgendämmerung war. Sand drang durch alle Ritzen des Zeltes und gelangte in Milias Augen. Sofort versuchte sie, ihn wegzublinzeln, doch es half nichts. Schließlich schloss sie die Augen und zog ihren Turban über sie. Der Wind riss an dem Zelt, als wollte er es jeden Moment mit sich in die Dunkelheit zerren. Ängstlich griff sie nach ihren Entführern. Aret zog sie schützend an sich, sodass ihr Gesicht an seiner Brust lag. Ebo drängte von der anderen Seite an Milia, sodass sie, geschützt von beiden Körpern, auf ihren Knien kauerte.
Sie konnte nicht schätzen, wie lange der Sandsturm dauerte. Es kam ihr endlos vor. Nach einiger Zeit hörte sie Donnergrollen. Ein Gewitter schien die Massen an Sand zu begleiten. Die junge Atlanterin drückte sich vor Angst nur noch fester an Aret.
Dann war es endlich vorbei.
Der Wind wurde schwächer und die Helligkeit kehrte