Augen wie Gras und Meer. M.T.W. Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: M.T.W. Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738036176
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jedoch keine wirkliche Beschäftigung für sich finden konnte, quälte sie sich auch bald zum Zentrum des Lagers.

      Sie hatte Angst.

      Welches Schicksal hatte Eero ereilt? Wie teuer hatte er für seine Freundlichkeit ihr gegenüber bezahlen müssen? Aret hatte ihm sicher etwas angetan, ihn gedroht oder womöglich umgebracht. Er war eine Gefahr geworden, wusste offensichtlich von ihrer Entführung. Ob er ihre Augen gesehen hatte? Ob er schon gehört hatte, dass die Tochter des Händlers Periandros mit den zweifarbigen Augen verschwunden war?

      Als sie das Lagerfeuer erreichte, erschrak sie.

      Die Kartographen saßen am Feuer, als wäre letzte Nacht nichts vorgefallen, als hätte Milia nicht versucht, das Lager zu verlassen und dabei auf Eero getroffen. Ruhig saßen sie beisammen, redeten, scherzten. Eero selbst saß offensichtlich unverletzt zwischen seinen Kollegen. Ihnen gegenüber hatten sich Ebo und Aret niedergelassen, scheinbar unbekümmert saßen sie neben der alten Hanna. Als sie Milia bemerkten, nickten ihr alle zu, Ebo, Aret und Hanna ruhig, die Kartographen mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht. Als wäre nichts passiert.

      Reflexartig ging sie zu ihren Entführern, die jedoch nicht wie sonst Anstalten machten, ihr das möglichst unbemerkt zu befehlen. Weiter verunsichert setzte Milia sich etwa eine Mannslänge von Ebo entfernt hin. Hanna reichte ihr eine Schüssel mit lauwarmem Brei. Doch Milia betrachtete gespannt ihre Entführer, die sich nicht daran zu stören schienen, dass sie nicht in ihrer unmittelbaren Nähe, wenn nicht sogar zwischen ihnen, Platz genommen hatte. Hätte Aret dieses Verhalten noch Gestern dazu gebracht, sie in seine Nähe zu zwingen, aß er ungerührt sein karges Frühstück.

      Was war letzte Nacht zwischen ihm und Eero vorgefallen?

      Kapitel 6

      Die nächsten Tage verliefen ohne große Zwischenfälle. Immer wieder machten die Gaukler halt, verdienten Geld und kauften ein. Aret und Ebo ließen Milia mehr Freiraum, sodass sie sich frei von Scham waschen, umkleiden oder ihren Gedanken nachhängen konnte. Sie schliefen nicht mehr dicht gedrängt an sie, setzten sich nicht automatisch zu ihren Seiten oder beobachteten peinlich genau jeden ihrer Schritte. Und wenn sie sich mit jemandem unterhalten wollte, unterband Aret das nicht sofort.

      Milia begann, abends die Kartographen zu beobachten. Der älteste, Amin, plauderte viel und gerne mit Ezra über Politik, das unstete Leben von Gauklern oder die Viehzucht. Der drahtige Manuél mit der olivfarbenen Haut kümmerte sich hauptsächlich um die Pferde, besserte Kleidungsstücke aus oder reinigte die komplizierten Messgeräte. Eero hatte begonnen, kleine Figuren aus Holz zu schnitzen, die er an Kinder verschenkte, wenn sie in das Lager der Gaukler kamen. Wenn sie weiterreisten, hörte Milia sie oft scherzen und lachen. Dabei sprachen sie arabisch. Da war sie sich sicher, auch wenn sie die Sprache bis auf einige Wörter nicht beherrschte. Daher kam wohl auch der Akzent Amins, der ihr bereits aufgefallen war. Arabisch war seine Muttersprache. Doch unterschied er sich von dem Akzent, den Aret hatte und Fara gehabt hatte, als sie ihre Sprache gesprochen hatten. Hin und wieder versuchte sie, den Sinn ihrer Unterhaltungen zu verstehen, gab jedoch meist schnell wieder auf. Ihre Zeit mit Fara war zu kurz gewesen.

      Wenn sie an Arets junge Schwester dachte, begann sie Mitleid zu empfinden. Nicht unbedingt für ihn, weil er sie verloren hatte, denn ihre Abneigung ihm gegenüber war dafür viel zu groß. Vielmehr fand sie es traurig, dass ein Mädchen in ihrem Alter derart tragisch ihr Leben verlor, eingeklemmt unter Trümmern, in einem fremden Land, nur im Beisein ihres gefühlskalten Bruders.

      Ob Fara Teil ihrer Entführung war, bevor das Unglück über Atlantis hereingebrochen war? Milia konnte es sich nicht vorstellen, dafür war sie zu schüchtern, ängstlich und auch jung gewesen. Sicherlich war sie von Aret dazu gezwungen worden. Ob er überhaupt ihr Bruder war? Würde ihr Bruder Akis ihr etwas Derartiges zumuten, Komplizin einer Entführung zu sein?

      War Ebo von Anfang an Teil von Arets Plan gewesen? Er war viele Jahre ein Sklave von Milias Familie gewesen und sie hatte angenommen, er hätte sich für dieses Schicksal glücklich schätzen können. Wann hatte er von der Entführung erfahren und sich ihr angeschlossen? Waren seine Beweggründe wirklich nur der Wunsch nach „Freiheit“, einem Gut, mit dem er, als Sklave von Geburt an, womöglich nicht einmal wirklich umgehen konnte?

      Milia erkannte mit jedem Tag mehr, wie wenig sie über ihre Entführer wusste.

      Als die Gaukler ihr Lager zehn Tage später vor Tripole aufschlugen, verschwand Aret sofort. Ebo schien zu wissen, warum, sprach aber nicht mit Milia. Verwundert setzte sie sich an das Lagerfeuer, obwohl die frühe Nachmittagssonne genug wärmte. In ihrer Nähe hatte sich Eero niedergelassen und schnitze an einer neuen Figur. Milia hatte die letzten Tage versucht, ihn zu ignorieren. Auch wenn sie gerne gewusst hätte, was in jener Nacht zwischen ihm und Aret vorgefallen war, hielt sie sich zurück. Sie wollte ihn nicht erneut durch ein Gespräch in Gefahr bringen.

      Als Aret einige Zeit später kam, waren die Schatten schon länger geworden. Er war nicht alleine. Bei sich hatte er fünf Kamele, schwer beladen mit Säcken, Tüchern und Beuteln. Sofort eilte Ebo zu ihm, um ihm die Zügel der Tiere abzunehmen.

      Milia hatte schon einige Male Kamele gesehen, jedoch war sie ihnen noch nie so nah gewesen. Sie überragten sogar Ebo, der dem gewaltigen Tier nicht einmal bis zur Schulter reichte. Gemächlich folgten sie ihm, setzten einen ihrer überraschend zierlichen Füße vor den Anderen. Vor dem Höcker von drei Kamelen war eine Art Sattel befestigt. Milias Magen krampfte sich zusammen.

      Währenddessen ging Aret zu Ezra und übergab ihm einen Beutel, vermutlich gefüllt mit Münzen als Bezahlung für die Reise. Woher hatte er das Geld, die Kamele, das Gepäck? Milias Kopf war voller Fragen, und keine war im Moment für sie zu beantworten.

      Kurz darauf kam Aret auf sie zu. In seiner Hand hielt er einige Kleidungsstücke, die er zuvor aus einem Beutel auf dem Rücken eines der sandfarbenen Tiere geholt hatte.

      „Zieh das an“, befahl er ihr. „Und beeil dich.“

      Unsicher blickte Milia auf die hellen Stoffe in ihrer Hand. Rebekka, Ezras Frau, schien ihre Hilflosigkeit zu bemerken und nahm sie an der Schulter. „Komm mein Kind, ich helfe dir.“ Mit diesen Worten führte sie sie zu ihrer Kutsche, schob sie hinein und drapierte die äußeren Stoffplanen so, dass sie vor fremden Blicken geschützt waren. Mit sicheren Handbewegungen entledigte sie Milia ihrer Kleider und half ihr in die sandfarbene Hose, das lange Hemd, das ihr bis zu den Knien ging sowie in die leichten Sandalen. Geschickt wickelte sie ihr ein langes Tuch um den Kopf, befestigte es gekonnt und legte es so vor das Gesicht, dass nur noch ihre Augen sichtbar waren. Nachdem sie ihr noch einen Umhang um die Schultern gelegt hatte, führte Rebekka sie nach draußen. Dort warteten schon Ebo und Aret auf sie, ebenso gekleidet wie Milia.

      Aret kam zu ihr und Rebekka, nickte letzterer anerkennend zu und zog Milia dann zu den Kamelen. Er klopfte einem auf die Flanke, sagte ein arabisches Wort und das gewaltige Tier legte sich gehorsam auf den Boden.

      „Nimm Platz“, befahl er leise, als er auf den seltsamen Sattel vor dem Höcker des Tieres zeigte.

      Panik stieg in Milia hoch. Das Kamel machte ihr Angst. „Das kann ich nicht. Aret nein, bitte nicht, ich kann nicht da drauf, es ist zu groß, bitte nicht.“

      Der Griff um ihren Arm wurde etwas fester. „Nimm Platz.“

      Sie nickte kurz und stieg dann unbeholfen in den Sattel. Ängstlich hielt sie sich am Griff fest und legte ihre Füße, wie von Aret gefordert, an den Hals des massigen Kamels. Aret sagte wieder ein Wort und klopfte an seine Flanke. Erst streckte es seine Hinterbeine, danach stand es komplett auf, weshalb Milia im Sattel hin und her geworfen wurde. Mit klopfendem Herzen hielt sie sich fest, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Es war viel zu hoch, die Beine des Kameles waren so schrecklich dünn. Wieso musste sie auf diesem seltsamen Tier sitzen? Sollte sie fallen, würde sie sich alle Knochen brechen!

      Auch Aret und Ebo stiegen auf jeweils ein Kamel auf und lenkten sie neben das von Milia. Während der Araber stolz und sicher auf seinem Tier saß, wirkte Ebo beunruhigt, jedoch bei weitem nicht so panisch wie Milia. Auch