Weil Marissa noch so jung war, so sehr am Anfang ihres Lebens mit so vielen Möglichkeiten, die sie noch entdecken musste ohne dieses Schwere mit sich zu tragen. Vielleicht half es ihr, mit den Geschichten von damals eine andere Sicht auf ihr Leben zu bekommen. Würde das gehen? War das der Weg? Vielleicht tat sie ihr gar keinen Gefallen damit, Wunden zu vergrößern, statt sie zu lindern. Tat sie nicht damit etwas grundlegend Falsches. Wie konnte sie wissen, dass Marissas Lebensschmerz weniger würde, wenn sie in die Vergangenheit eintauchte, die alles andere als angenehm gewesen war. Konnte das überhaupt funktionieren. Würde sie nicht eher doppelt leiden dadurch. Wie sicher war es, dass es eine Verbindung gab zwischen dem Erleben der Enkelin und dem der Vorfahren. Und warum kümmerte sie sich nicht zu allererst darum, wie es ihrer Tochter ging. Ihrer so gewünschten, geliebten Juliane, die wahrhaftig so viele dunkle Wege durchschritten hatte und immer noch ging. Doch die sich auch so vor allem verschloss. Vor sich, vor der Welt, vor ihrer Mutter, ihrer Tochter. Und vor ihrem Herzen.
Emilia stand da in ihrer Wohnstube. Stand vor den Bildern der Familie. Vor allen, die gewesen waren und die noch hier waren. Die noch jungen, lebendigen. Aber wie wenige waren das doch, verglichen mit denen, die nur noch scheinbar lebendig aus den Rahmen zu ihr blickten. Sie sah von einem zu anderen, suchte in jedem Gesicht nach Spuren der Geschichte, nach Glück und Freude, Verlust und Leid. Manche blickten ausdrucklos, andere, wie ihre Mutter Mathilda, strahlten zu demjenigen herüber, der das festzuhalten versuchte, was in dem Moment in der Ferne noch so frisch gewesen war.
Nikolas. Ihr Bruder. Er stand da so steif. So steif, wie er nie gewesen war. Aber er mochte es nicht, fotografiert zu werden. Er stellte sich dann immer auf als hätte er einen Stock verschluckt, biß die Zähne zusammen und starrte unbeweglich geradeaus. Möglich, dass er sogar das Atmen einstellte. Auf Bildern blickte ein ganz anderer Nikolas heraus als der, der er war, wenn der Fotograf den Apparat wieder eingepackt hatte. Dann war er sofort wieder überaus lebendig, lustig und sehr, sehr gut aussehend. Emilia hatte ihn immer geliebt und liebte ihn noch. Vorsichtig nahm sie sein Bild vom Sims und sah dem Bruder in die unbeweglichen Augen. „Du bist und bleibst mein Held, Nick!“
Ihr Hochzeitsfoto daneben war schon sehr verblichen, doch noch immer spürte sie diesen Glücksaugenblick in sich als sie da vor dem Kirchenportal neben Julius stand. Den Strauß tiefdunkelroter Rosen an sich gedrückt, ihrer beider Augenpaare ineinander verschlungen, so fest wie die Hände. Das stumme Lächeln für die Ewigkeit mit Liebe versiegelt.
Julius. Noch immer schien es ihr wie ein Traum, dass er da gewesen war. Da für sie. Mit ihr. Ein Glück, das ihr begegnet war als sie nicht mehr daran glaubte, dass es so etwas wie Glück für sie noch geben konnte. Nach diesen vielen Jahren voller Leid, diesem Krieg, den Jahren danach, die, auch wenn sie Frieden hießen, nichts anders waren als der Rest von Überlebenden, die ihre Wunden vergessen wollten. Die sich in ein neues Leben stürzten ohne das, was gewesen war, begriffen zu haben, ohne es heil werden zu lassen. Niemand fragte nach den Seelenwunden, die geblieben waren. Was wusste man davon, was wusste man von Traumata. Von möglichen Therapien. Das Leben wollte gelebt werden, das Leben war wieder lebenswert. Wunden des Körpers heilten irgendwann. Und die Wunden der Seele? Worüber nicht gesprochen wurden, was man nicht sah, das gab es nicht, war nicht wichtig. Das Jetzt war wichtig! Nach vorne schauen, das war alles, was zählte. Zukunft leben!
Und die Zukunft war licht. Emilia übersprang mit ihren Gedanken die schwierigen Nachkriegsjahre bis hin zu dem Tag als alles für sie nur noch glänzte. Als sie Julius das erste Mal sah. Julius, diesen überaus attraktiven Mann, der hinter seinem Flügel saß und die Welt mit seiner Musik einhüllte. Und auch sie fühlte sich eingehüllt davon, ließ sich bereitwillig gefangen nehmen. Wie kitschig. Wie überaus wundervoll war das, was ihnen beiden widerfuhr. Wundervoll und doch so selbstverständlich. Niemals gab es eine Frage, ein Zweifel zwischen ihnen. Es war alles klar. Klar und einfach.
Niemals sonst in ihrem Leben war etwas so einfach gewesen. Und diese Einfachheit bewahrten sie sich ein halbes Jahrhundert lang. Von dem Tag ihrer ersten Begegnung bis zu dem Tag, an dem Julius neben ihr im Bett lag und nicht mehr atmete. Vom Tag vor dem Traualtar bis zu dem Tag, an dem sie ihre Goldhochzeit feierten. Dieses Leben war das Leben, was sie immer leben wollte. Dieses Leben genoss sie jeden Tag, jede Stunde, die es dauerte. Dieses Leben war ein Stück Himmelsglück, das sie trug und leitete bis hierher. Bis zu diesem Sein, das sie allein ließ ohne ihn, ihren Seelengefährten, aber sich niemals einsam fühlen ließ. Das Glück war noch immer da, wie ein ewiges Leuchten in ihr. Sollte es eines Tages verlöschen, würde das ihr letzter Erdentag sein.
Bis dahin wollte sie es immer wieder neu aufleuchten lassen und es denen weitergeben, die es bisher so wenig hatten aufflackern sehen.
Sie blickte in die Augen ihres Mannes, der sie durch den Bilderrahmen ansah. Blickte in die Augen eines älteren, weißhaarigen Mannes mit Schalk im Gesicht. Das Bild, das neben ihrem Bett stand und das sie jeden Abend in die Hand nahm. Und auch jetzt. Aus einem inneren Bedürfnis war sie nach oben gegangen, zu ihm. Setzte sich mit ihm auf seine Bettseite und sprach mit ihm, bat ihn um Hilfe für Marissa, Juliane und für sich. Bat um Eingebung und Zuspruch und fühlte seine Nähe wie eine wärmende Umarmung.
Hörte seine lachende Stimme: „Lia, du brauchst mich nicht. Du bist so stark. Du warst immer so viel stärker als ich. Du warst immer mein Halt. Nicht umgekehrt. Ich sehe, dass du alles gut machst. Ich sehe, dass alles gut wird. Ich sehe euch alle. Ich sehe euch im Glück.“
*
Dann war Marissa wieder da. Wirbelnd wie der Wind vom Meer und so ungestüm, wie sie sein sollte als junger Mensch. Voller Energie und Lebensfreude. So war es richtig. Nicht die Marissa, die in sich zusammengekauerte. Das Lachen in ihrem Gesicht war viel zu strahlend als das es wieder verdrängt werden durfte von etwas Dunklem. Emilia freute sich über den Anblick ihrer Enkelin, die rufend zu ihr nach oben gerannt kam.
„Oma, ich bin wieder da!“ Sie stand pustend vor ihr und sprudelte sofort über. „Es war sehr, sehr lustig! Knut ist wirklich ein Seebär wie aus dem Buch! Wie er singt und spielt! Und wie er mit den Kindern umgeht und Spaß macht. Wirklich toll.“
Emilia