Siebenreich - Die letzten Scherben. Michael Kothe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Kothe
Издательство: Bookwire
Серия: Siebenreich
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752909401
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er den See betrachten können, der seine Festung von Norden her schützte. Auf ihre Uneinnehmbarkeit durfte er vertrauen.

      Der Dunkle Herrscher, wie er sich auch gern nennen ließ, stand vornübergebeugt an der Mitte seines großen Kartentisches. Mit durchgestreckten Armen und auf die Knöchel beider Fäuste gestützt konzentrierte er sich auf seine Schlachtpläne. Seine Truppen aus Orks und Goblins führte er meistens durch Magie aus der Ferne in den Krieg, den er im Niemandsland nordwestlich von seinem Reich den Menschen und Zwergen aufgezwungen hatte. Er hatte erreicht, seit mehreren Jahren alle nennenswerten militärischen Kräfte der Menschen im Norden ihrer Heimat Siebenreich zu binden.

      »Dass die Zwerge sich in die Schlacht geworfen haben, ist mir nicht hinderlich. Damit war zu rechnen.«

      Seine Zufriedenheit erstarb jäh. Die neue Gefahr stahl sich zurück in seine Sinne. Vage war sie, verschwommen. Für ihn war sie real. Wogegen aber richtete sie sich? Gegen seine konkreten Pläne, gegen seine Macht oder gegen ihn selbst? Sicher war er sich nur in einem: »Sie kommt mir näher!«

      Wieder einmal kam er zu keinem befriedigenden Schluss. Er stieß sich von der Kante ab, schüttelte sich und straffte die Schultern. Seine Hände vollführten rasch eine wedelnde Bewegung, wischten die Emotionen fort. Sein Verstand gewann die Oberhand.

      Die Pläne hatte er schon ungezählte Male hinterfragt und stets für gut und notwendig befunden. Sie beruhten auf dem Streben nach Macht und Rache. Sein Machtstreben forderte die Unterwerfung des gesamten Kontinents, seine Rache die Vernichtung oder Versklavung der Menschen, Zwerge und Elben. Der Rachegedanke war so alt wie das Ende des so genannten »Großen Krieges«.

      Wenige Tage vor Drogan’t’Hars damaliger Niederlage hatte ein menschlicher Edler, dem in Gefangenschaft ein qualvoller Tod bevorstand, vor ihm ausgespien und ihn verächtlich einen »Echsenmann« genannt. Unwillkürlich ballte er die Hände zur Faust. Zorn packte ihn noch jetzt wie jedes Mal, wenn dieser Vorfall nach Jahrhunderten aus seiner ererbten Erinnerung ihm ins Bewusstsein kroch. Der Gefangene hatte für diese Beleidigung noch grausamere Qualen verdient gehabt, stattdessen hatte ihm ein einziger von Wut geleiteter Schwerthieb schmerzlos den Kopf vom Rumpf getrennt. Für die Schmach sollten die drei Völker nun büßen.

      Der Kartentisch hatte enorme Ausmaße. Ein breiter Rand mit großzügiger Stellfläche umfasste eine reliefartige und maßstabsgetreue Landschaft. Vom Osten ausgehend war das ehemalige Reich der Orks und Goblins, nun seines, detailliert nachgebildet. Im Westen schloss sich hinter den Morgenbergen Siebenreich an. Wie das Land der Zwerge nördlich davon und wie das Elbenreich noch weiter westlich war es mit flachen, ungefärbten Flächen durchsetzt. Dies waren Gebiete, die der Dunkle Herrscher bisher nicht hatte auskundschaften lassen. Im Süden wiederum war Seeland lückenlos ausgestaltet. Der Grund war die Nähe zur Heimat der Goblins und zur Piratenstadt, aus der er bevorzugt seine menschlichen Späher und Meuchler rekrutierte. Aus Onyx und anderem Stein geschnitzte Kriegerfiguren warteten auf dem Rand auf ihren Einsatz. In weiteren Gruppen standen einfache Klötze bereit, allesamt in dunklen Farben. Diejenigen, die in der Miniaturlandschaft ihren Platz gefunden hatten, stellten Kampfeinheiten Drogan´t´Hars und seiner Gegner dar. Magie bewirkte, dass die Symbole dem Weg der Einheiten folgten und im Falle von deren Niederlage zu Staub zerfielen. So zeigte der Kartentisch stets die neueste Lage.

      Grimmig lenkte der Dunkle Herrscher seinen Blick auf Siebenreich. Hier würde er zuerst seine Fähigkeiten einsetzen, die Beherrschung der Elemente und die Nekromantie. Die Beherrschung von Luft und Erde sollten die Menschen mit Stürmen erschüttern. In der sich öffnenden Erde würden sie untergehen! Durch die Totenbeschwörung ließe er die Gefallenen des Großen Krieges auferstehen und verstärkte mit ihnen seine Truppen.

      »Das wird ihr Grauen steigern!«

      Grimm und Hass ließen ihn diese Worte wie zu seiner eigenen Befriedigung laut hervorstoßen. Von der Nekromantie ausgehend wanderten seine Gedanken zu den Forschungen, deren bevorstehende Ergebnisse er gespannt erwartete. Er senkte die Stimme und beendete in beinah verschwörerischem Tonfall seine Vorstellung vom Kampf gegen Siebenreich.

      »Auch wenn ich ihnen schon vorher unvorstellbares Entsetzen bringe.«

      Ein zynisches Lächeln zog seine schmalen Lippen zurück. Die fliehende Stirn und die beinahe seitlich liegenden Nasenlöcher ließen sein Echsenmaul noch markanter und weiter vorgeschoben erscheinen. Seine Mimik entblößte zwei Reihen kleiner, aber spitzer und scharfer Zähne. Obwohl er von beinahe menschlicher Gestalt war, bezeugte ein einziger Blick auf sein Gesicht und seine schuppige Haut eine sicherlich lang zurückliegende, aber nicht zu leugnende Anwesenheit von Drachen in seinem Stammbaum.

      Derzeit beherrschte er die Elemente nur ansatzweise. Der Schaffung neuen Lebens war er sich noch nicht vollkommen sicher. Dafür benötigte er ein mächtiges Werkzeug. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, einige Fragmente davon bereits im Besitz zu haben. Und weitere, dessen war er sich sicher, befanden sich auf dem Weg in sein Reich. Er lachte auf, denn ausgerechnet seine Feinde hatten dieses Artefakt geschaffen! Zwar war es gegen ihn gerichtet, aber als ihm das erste Bruchstück in die Hände gefallen war, hatte er das Blatt zu seinen Gunsten gewendet. Seit langem schon übte er, jetzt wähnte er sich kurz vor einem ersten großen Erfolg. Es war ein mühsames Unterfangen und langwierig, aber er hatte Zeit. Er hatte ein langes Leben.

      2.

      »Herr!«

      Der junge Ork übte sich in unendlich vielen Bücklingen.

      »Alles ist bereit, wie ihr es befohlen habt, Herr.«

      Das Turmzimmer hatte er schräg hinter dem Dunklen Herrscher betreten.

      Der nahm ihn erst wahr, als er seine Stimme hörte. Er drehte sich zu ihm um und hob die Hand.

      »Schweig!«

      Er beugte sich wieder über seinen Kartentisch. Schließlich nickte er, löste Blick und Gedanken vom Kriegsgeschehen und wandte sich seinem Boten zu.

      »Geh voraus!«

      Der Junge kam der knappen Aufforderung sofort nach. Er war das jüngste Mitglied der Leibwache, von einem altgedienten Anführer empfohlen wegen seiner Tapferkeit und seines Geschicks.

      »Der Rat scheint gerechtfertigt«, sagte sich der Dunkle Herrscher, »oft genug habe ich sein Können während der Waffenausbildung im Burghof beobachtet.« Nun folgte er ihm in einigem Abstand die Wendeltreppe hinab, sie schien endlos. Sie hatten den Turm verlassen und unterwegs einen Blick durch den offenen Zugang in den großen Saal geworfen. Hier hinein befahl der Herrscher ab und zu seine Anführer zu Lageberichten. Weiter unten ließen sie ein bewachtes Gittertor aufschließen und stiegen dahinter ungezählte Windungen hinab. Aus den Verliesen unterirdischer Kerkergeschosse hallten ihnen das Stöhnen und die Schreie der Gefangenen entgegen, die auf ihre Läuterung oder auf ihren Tod warteten. Ungerührt gingen sie weiter.

      Unentwegt berichtete der junge Ork darüber, was seinen Herrn erwartete. Mehrmals blieb er dabei stehen.

      »Herr, die Formen haben wir abgenommen, wie ihr befohlen hattet. Genau zum angewiesenen Zeitpunkt. Es ist alles fest, nichts ist abgebrochen, wir haben …«

      »Schweig!« donnerte der Sohn des Drachen noch einmal. Er war ungehalten. Nicht nur, weil die Erklärungen des Rekruten unnütz waren, er wusste schließlich, was er zu sehen bekäme, sondern wegen dessen Ungeduld. Er überlegte, ob er ihn aus seiner Leibwache entfernen lassen sollte. Sie erreichten einen Gang, der geradeaus leicht ansteigend wieder nach oben führte. Als sie an dessen Ende in den großen Raum traten, hatte er den Entschluss gefasst, den jungen Ork mit Strenge zu Geduld und Beharrlichkeit erziehen zu lassen.

      Der Raum war riesig. Licht fiel durch Gitter weit oben in der Decke. Die Kommandos und das Waffenklirren, die von dort hereindrangen, machten klar, dass sie sich unter dem Burghof befanden, auf dem die Leibwache übte. Dort hinauf führte eine steile Rampe in einem Tunnel, der so hoch war wie der Raum selbst, und dessen Ende ein schweres, hohes Tor versperrte.

      Drogan’t’Har trat zu einem der hüfthoch gemauerten Sockel, die die Wände säumten. Zufrieden betrachtete er das mehrfach