Vor jeder Kurve habe ich Angst, wieder erschreckt zu werden.
Ich löse meinen Griff von Liams Arm, als wir oben angekommen sind, um eine kurze Strecke den Ausblick genießen zu können, obwohl dieser nicht sonderlich besonders ist.
„Wuahhh!!!“, schreie ich und fahre zusammen. Natürlich musste direkt hinter der Tür, die wieder ins Dunkle führt, eine Frau stehen, die auf mich zukommt und mich anschreit.
Liam schüttelt mit dem Kopf, aber kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Ich habe gespürt, dass er gezuckt hat. Aber wahrscheinlich hat ihn mein Losschreien mehr erschreckt als der Schrei der Schauspielerin. Auf jeden Fall scheint er Spaß mit mir zu haben.
Den Weg hoch fahren wir nun wieder herunter. Dass ich nichts sehen kann, macht mich fertig. Ich mag Dunkelheit nicht. Es nimmt mir die Kontrolle. Und alles, was ich nicht kontrollieren kann, finde ich doof. Na ja. Fast alles …
Links und rechts springen Puppen laut aus ihren Kästen oder fallen von der Decke; werden begleitet von Licht- und Soundeffekten. Ein paar lautere Töne verliere ich auf der restlichen Fahrt noch, aber nicht in dem Frequenzbereich, in dem Liams Gehör einen Schaden davon tragen könnte.
„Das war doch ganz witzig“, sage ich, als wir das Fahrgeschäft verlassen und er wieder meine Hand ergreift.
„War es, du Schreihals.“ Er festigt dabei impulsartig seinen Griff. Ich grinse ihn an.
„So, ich muss mir jetzt noch etwas zu essen kaufen. Muss genügend futtern, damit die Muskeln weiter wachsen.“
Am nächsten Stand kauft er sich ein Burgunder Brötchen.
„Wie viel willst du denn noch zulegen? Dachte, du hättest dein Ziel jetzt erreicht …“, hake ich nach.
„Da kann noch gut was drauf. Das war ja bloß mein Ziel für Österreich.“
„Oh. Okay. Aber verlierst du dadurch nicht deine Beweglichkeit?“
„Ja, das schon. Daher werde ich es nicht übertreiben. Aber in dem Business bekommt man mehr Angebote, wenn man ordentlich Muskeln hat. Und so lange werde ich diesen Job bestimmt nicht mehr machen können. Seitdem ich wieder hier bin, hab ich Schmerzen im Knie.“
„Das ist nicht gut …“, sage ich besorgt.
„Nein. Kommt wohl daher, dass ich von Österreich nach Hamburg durchgefahren bin und nur Tank- und Klopausen gemacht habe.“
„Du bist ja verrückt!“
„Ich wollte halt nach Hause.“
„Das kann ich natürlich verstehen.“
Nachdem er aufgegessen hat, nimmt er erneut meine Hand und wir verlassen schlendernd den Hamburger Dom. Ich weiß nicht, wo er als nächstes hin möchte, frage aber auch nicht nach. Wir überqueren die Ampel, die zum Kiez führt. Die entgegengesetzte Richtung zu seinem Auto. Ich bin doch zu neugierig …
„Was machen wir jetzt?“
„Wir gehen in die Alm, in der Lars und ich arbeiten. Ich hole den Wohnungsschlüssel ab“, zwinkert er mir zu.
„Okay. Warum wohnst du eigentlich nicht bei Fabian?“
„Fabian wohnt zu weit weg. Das mit Lars geht aber auch nicht auf längere Sicht. Das Zimmer ist für uns zwei zu klein und er selbst muss demnächst eine neue Wohnung finden, da sein WG-Kollege keine Lust mehr auf ihn hat. Für mich ist das auch kein Zustand. Die haben nicht mal eine anständige Küche. Kaum Geschirr. Lars erhofft sich leider, dass ich mit ihm zusammen eine WG gründe, aber darauf habe ich gar keinen Bock. Der ist wirklich sehr anhänglich. Bin froh, dass er arbeiten muss und ich jetzt Zeit mit dir verbringen kann. Nachher hab ich ihn dann nur ein paar Stunden an der Backe.“
Mein Herz erfreut sich über die Tatsache, dass er anscheinend wirklich gerne mit mir Zeit verbringt. Obwohl neben meinem Herzen bestimmt das Teufelchen sitzt und irgendwelche Knöpfe drückt …
„Also seid ihr gar keine dicken Freunde?“, fahre ich mit meiner Ausfragerei fort.
„Er ist an sich voll in Ordnung. Bin ihm auch dankbar, dass er mir den Job vermittelt hat. Aber er ist halt nicht das hellste Licht. Du hast ihn ja gesehen … Er stofft, trainiert nicht anständig und frisst nur Scheiße. Da frage ich mich, wieso er überhaupt stofft. Er steht in der Umkleide immer vor dem Spiegel, post und feiert sich selber. Seine Körperhaltung ist total für den Arsch, weil er meint, sich aufplustern zu müssen, um breiter auszusehen. Dadurch, dass er die Schultern so hochzieht, ragt sein Kopf viel zu sehr nach vorn.“
„Hast du ihm das mal gesagt, dass das nicht gut aussieht? Mir ist vorhin direkt aufgefallen, dass er gerne wie ein richtiger Kerl wirken möchte, aber das tut er nicht. Dadurch, dass er sich Gedanken darüber macht, wie er in der Außenwirkung cool wirkt, passiert das Gegenteil.“
„Nein, ich muss keinen Stress mit ihm anfangen. Er würde das eh nicht einsehen. Er meint ja auch, dass er mehr Glück bei den Frauen hat als ich. Was ganz offensichtlich nicht der Fall ist.“ Liam rollt mit den Augen.
„Da hat es wohl jemand nötig, sein Ego mit Lügen zu stärken.“
„Sieht ganz so aus. Der wird gleich doof gucken, wenn ich mit dir da antanze und den Schlüssel abhole.“ Er grinst schelmisch. Das scheint ihm zu gefallen.
„Die anderen Leute glotzen uns beide auch sehr neidisch an“, sagt er stolz. Ich runzle die Stirn.
„Ja, wahrscheinlich, weil ich halbnackt über den Kiez laufe mit einem braungebrannten, muskulösen Typen … Die denken bestimmt, dass ich hier arbeite und du mein Zuhälterfreund bist“, ziehe ich das Ganze ins Lächerliche.
Wie er darauf kommt, dass die anderen Menschen neidisch auf uns sind, verstehe ich nicht. Eigentlich ist er in der Hinsicht nicht besser als Lars. Er redet sich Dinge ebenfalls gerne schön, um sein Ego zu pushen.
„Haha. Kann auch sein. Aber wir sehen schon gut zusammen aus. Dein Bauch lässt sich eben wunderbar präsentieren.“
Oh! Ein Kompliment.
„Danke“, sage ich trocken, aber mit einem Grinsen.
Er sagt nichts, was wahrscheinlich daran liegt, dass sein Fokus auf die Boutique Bizarre gefallen ist.
„Wollen wir mal reinschauen?“, fragt er mich in einem Ton, der keine andere Antwort als ein Ja akzeptiert. Eigentlich hätte er mich gar nicht fragen brauchen. Vor allem, da ich selbstverständlich mit ihm in dieses Geschäft möchte!
Als wir die Treppen in die Fetischabteilung heruntergehen, begleitet mich eine unglaubliche Vorfreude. Ich erwarte nicht, dass wir etwas Neues kaufen. Für mich reicht schon die Tatsache, dass wir uns gemeinsam Dinge anschauen, die wir benutzen könnten. Zukünftig.
Wir bleiben direkt in dem kleinen Flur stehen, von dem der Raum zu den Dessous abgeht, wie auch der Raum, in dem sich die extremeren Toys, Filme, Latex- und Lederbekleidungen befinden.
Zwischen den beiden Bereichen ist eine Vitrine in die dunkelgraue Wand eingebaut, in der besonders teure Dinge ausgestellt sind.
Liams Blick fällt auf eine Gerte mit einem Diamanten besetzten Griff.
„Ich wüsste, wem das gut gefallen würde. Sie steht total auf alles, was glitzert“, kommentiert er das edle Toy.
Für einen kurzen Moment sucht mich ein merkwürdiges Gefühl heim. Hat er eine andere? Hat er eine in Österreich kennengelernt? Sofort verbanne ich diese Gedanken, denn immerhin würde er den Tag sonst nicht mit mir verbringen und vor allem würde er nicht Händchen mit mir halten. Bestimmt denkt er dabei an eine Freundin, die in der SM-Branche arbeitet. Nur war in seinen Worten keine Gleichgültigkeit zu spüren; es war nicht einfach bloß dahergeredet. In seiner Stimme lag ein Hauch von Emotion. Dennoch kann ich mich täuschen.
Wir gehen weiter zu den Schlagwerkzeugen. Den Floggern, Paddeln und Gerten. Als ich die Stränge eines der Flogger über meine Handfläche fahren lasse,