IXXI. Doug Mechthild. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Doug Mechthild
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753195421
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ist real. Die Menschen haben ihn immer falsch verehrt. Sie führten Kriege in seinem Namen und brachten sich gegenseitig um. Moslems, Juden, Christen, sogar Buddhisten … alle beten auf ihre Weise zu demselben Gott, aber trotzdem hassen und bekämpfen sie sich. Wie dumm das doch ist! Gott, der echte und wahre Gott, wird all das Unrecht wiedergutmachen. Wenn er endlich kommt, wird er alle vereinen. Aber bis dahin müssen wir aufhören, solche Betonköpfe zu sein.“

      „Woher weißt du denn, dass dein Gott der richtige ist?“

      „Anton hat ihn mir gezeigt. Er gab mir sein Buch. Es steht so viel Weisheit darin! Er hat mich zu einem Treffen mitgenommen. Die Männer dort sind so nett, dort sind alle Brüder!“

      „Keine Frauen?“

      „Die Frauen beten woanders. Es soll nicht dazu kommen, dass Männer und Frauen sich gegenseitig in Versuchung führen.“

      „Und die Kinder?“

      „Kinder gibt es dort nicht. Alle sind über zwölf Jahre alt, das Alter, in dem man beitreten kann.“

      „Aha.“

      „Es herrscht so eine herzliche Atmosphäre. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich habe dort zum ersten Mal gespürt, was Geborgenheit ist.“

      „Ist ... ist es denn so schlimm hier bei uns?“, warf Steffi zaghaft ein.

      Andy kam blinzelnd zurück in die Realität von Steffis nun recht kahlem Zimmer.

      „Schlimm? Nein, schlimm ... so würde ich das nicht sagen. Aber das hier ist kein Heim. Wann war das letzte Mal, dass wir alle als Familie etwas gemacht haben? Wir essen ja nicht mal zusammen.“

      „Ist das denn ein Grund, seine Religion zu wechseln?“, fragte Steffi irritiert und strich sich eine wirre Strähne aus dem Gesicht.

      „Wechseln?“, höhnte Andy, „wir sind doch nie religiös gewesen! Wann hätte uns unsere Mutter je von Ethik oder Moral etwas erzählt? Die Zehn Gebote habe ich zum ersten Mal im Religionsunterricht gehört, und da war es schon fast zu spät. Daniel Peters ist ein guter Mann und ein prima Lehrer. Ohne ihn wüsste ich überhaupt nichts über Religion. Er hat sich damals gut um uns gekümmert. Er kommt so oft hier zu Besuch und verbringt Zeit mit uns, weil wir ihm am Herzen liegen. Von ihm haben wir etwas erfahren, vorher nicht. Nur erzählt er unwissentlich lediglich Blödsinn, wie alle Christen. Selbst die Bibel ist nämlich verfälscht worden.“

      „Ja? Ach ...“, murmelte Steffi.

      „Ja. Das Kommen von Gott. Gott selbst wird dort völlig falsch dargestellt. Es ist nämlich so, dass die allmächtige Göttin Sophia Jahwe geschaffen hat. Und der hat diese Erde erschaffen und die Engel und auch uns Menschen. Aber er ist ein böser Gott, der die Menschen einsperrte und unwissend hielt. Ein Drittel der Engel hielt das nicht mehr aus und rebellierte. Der Größte unter ihnen, Luzifer, versuchte die Menschen aufzuwecken. Dafür wurden er und seine Engel auf die Erde geworfen. Seit Jahrtausenden versuchen Luzifer und seine Engel, Jahwe zu besiegen und den Himmel zu erobern. Das wird der Tag unserer Befreiung sein!“

      „Luzifer! Aber das ist doch der Teufel!“

      „Da siehst du, welchen Blödsinn man dir immer eingetrichtert hat. Es ist genau umgekehrt. Luzifer ist Gott. Und er ist der Gute.“

      „Aha.“ Steffi zwirbelte die Haarsträhne.

      Andy musterte sie scharf, sah, dass ihre Aufmerksamkeit mal wieder abschweifte, und nickte.

      „Schon gut. Für heute reicht das. Häng einfach keine Bilder mehr auf, okay? Und ich, ich muss jetzt beten. Es wird Zeit.“

      „Du ... du bist schon richtig konvertiert und so?“, fragte Steffi und sah ihren Bruder mit einer Mischung aus Neugier und Unverständnis an.

      „Ja. Ich bin mit Anton im Tempel gewesen ... und es war unvergleichlich.“

      „Hm.“

      „Wir reden morgen weiter“, erwiderte Andy, zwinkerte seiner kleinen Schwester zu und schloss die Tür.

      Wenig später öffnete er sie wieder und warf ihr einen Müllbeutel zu.

      „Ach, übrigens, Skulpturen weiblicher Reproduktion sind auch verboten“, erklärte er und wies auf Steffis Pferdeporzellanfigur, die in ihrem Regal stand. Es war ein Abschiedsgeschenk von Anja gewesen, weil Steffi Anni, Anjas Pferd, nach ihrem Umzug nicht mehr sehen konnte.

      Andy warf die hübsche kleine Figur heftig auf den Boden. Sie zerbarst in tausend Scherben. Steffi fuhr zusammen und starrte ihrem Bruder, der leise summend die Tür schloss und sich entfernte, verständnislos hinterher.

      Sie schluckte schwer und klaubte die Reste ihrer Bilder und die Porzellanscherben zusammen. Sie warf sie in den Müll, während ihr Bruder nebenan zu Luzifer betete.

      Doris F.: Die Stille

      Am schlimmsten ist die Stille.

      Ich wache morgens auf und spüre schon, dass ich allein bin. Das Bett fühlt sich leer an. Ich beziehe beide Decken und Kissen, als ob er noch da wäre. Aber ich merke es trotzdem. Es ist das schrecklichste Gefühl auf Erden. Diese Gewissheit, dass er nicht mehr da ist und auch nie mehr wiederkommen wird.

      Jörg starb damals, weil ihm ein Metallteil aus einem der Stände an den Kopf flog. Es war wie ein Geschoss, haben sie mir gesagt, Jörg hat nichts gespürt. Er war sofort tot. Aber sie rieten mir dringend davon ab, seine Leiche anzusehen. „Behalten Sie ihn in Erinnerung, so wie Sie ihn kannten.“ Er muss also völlig entstellt gewesen sein.

      Beim Bestattungsinstitut wurde ich gar nicht erst gefragt, ob ich einen offenen Sarg bei der Trauerfeier wünschte.

      Seitdem habe ich immer dieses Bild vor Augen: Jörgs Körper ohne Kopf. Er trug damals die beige Jacke mit Lammfellfutter, eine schwarze Jeans und Wildlederstiefel. Als es knallte, hatte Bernd, sein Chef, der uns gerade über den Weg gelaufen war, eine launige Bemerkung gemacht. „Na, das Weihnachtsgeld verbraten, was?“, so in der Art. Jörg hatte genickt, gegrinst und in die Bratwurst gebissen. Kleine Dampfwölkchen kamen aus seinem Mund. Etwas Senf hing in seinem Mundwinkel, seine Augen waren halb geschlossen. Er hatte zum Friseur gemusst und es nicht mehr geschafft, deswegen blinzelte er, weil eine Haarsträhne ihm ins Auge geweht wurde. Das weiß ich noch. Es ist das letzte Mal, dass ich sein Gesicht sah. Dann spürte ich eine ungeheure Wucht. Wie eine riesige Faust, die mich wegschleuderte. Und dann die Hitze. Aber es fühlte sich nicht an wie Hitze, es war im ersten Augenblick beinahe wie Kälte. Etwas, das die Haut sich zusammenziehen lässt.

      Warum ich noch lebe, weiß ich nicht. Es ist mir auch egal. Es wäre mir lieber gewesen, ich wäre auch gestorben. Aber mein linker Arm, mein linkes Bein und die linke Hälfte meines Gesichts und meines Körpers erlitten „nur“ starke Verbrennungen.

      Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich mit diesem Restleben anfangen soll. Ich gehe zum Neurologen und zur Therapie, schleppe mich in Selbsthilfegruppen, schlucke Antidepressiva und Schmerzmittel, lasse mich operieren. Ich habe schon vergessen, wie oft ich unterm Messer war.

      Alles ist wie in einem Nebel. Abends, wenn es am schlimmsten ist, ertappe ich mich dabei, dass ich auf Jörg warte. Und dann wird es mir wieder bewusst: Er ist tot, er wird nicht mehr zur Tür hereinkommen. Und seine T-Shirts, Socken und Unterhosen, die ich an dem Tag noch schnell aufgehängt hatte, damit wir abends zu seinen Eltern fahren und Weihnachten zusammen feiern konnten, wird er nie wieder tragen. Aber ich bringe es nicht über mich, sie abzunehmen und wegzulegen … oder den Rest seiner Kleidung wegzugeben. Das wäre, als würde ich ihn noch einmal umbringen. Es waren doch seine Sachen ...

      IXXI

      „Andy ...?“ Steffi lugte vorsichtig zur Tür herein. Andy kniete auf einem kleinen Teppich und verneigte sich, so sah es für Steffis verwirrte Augen jedenfalls aus, vor seinem CD-Regal. Da sah sie, dass das Regal fort war. Auf der Wand hatte Andy stattdessen etwas aufgemalt, was wie IXXI aussah.