Horgol hatte eine blutende Platzwunde am Kopf und der rechten Wange, sein rechter Arm war seltsam gebogen und hing kraftlos nach unten. Öcetim erkannte sofort, dass er gebrochen war. Er lud den jammernden Buben auf seinen Rücken und trug ihn ins Freie, vorsichtig legte er ihn auf den Boden, jemand drückte ein altes Fellstück auf seine Platzwunden. Eine Frau eilte herbei, sie schien eine Heilkundige zu sein, denn sie trug Birkenporlinge bei sich. Sie zog das alte Fellstück wieder weg, schaute sich die blutenden Wunden genau an, entfernte ein paar Gesteinssplitter und presste dann die Birkenporlinge auf die Wunden. Erst als diese zu bluten aufhörten, verband sie die Wunden mit den Blättern eines Nussbaumes, währenddessen sie nach frischen Ästen rief, mit denen sie den gebrochenen Arm schienen konnte.
Abends am Lagerfeuer wurde über den Einsturz des Stollens und den Unfall des Buben gesprochen. So etwas dürfte nicht geschehen, war die überwiegende Meinung der Leute. Was aber konnten sie tun? Sie waren doch alle abhängig von der Mine – und von Marabeo und Wurkaz, die hier allein zu bestimmen hatten. Viele Leute arbeiteten hier schon einige Jahre lang, sie hatten schon mehrere Unfälle erleben müssen: Stürze und Knochenbrüche gab es immer wieder. Daran hatten sie sich gewöhnt und glaubten, dass dies nicht allein durch Unachtsamkeit kam. Sie waren der Auffassung, dass immer die Götter ihre Hand im Spiel hätten und nichts zufällig geschähe, denn bekanntlich bestimmten die Götter das Schicksal der Menschen.
Darüber hinaus wussten alle, dass Marabeo für jeden Arbeiter einen Stab mit den seltsamen Strichen und Zeichen hatte. Sie vermuteten, dass ein Geist in dem Haselnussstab hausen und dieser Geist Marabeo Macht über die Arbeiter verleihen würde. Keiner konnte das verstehen – außer vielleicht Namos, dem dunkelhäutigen Mann aus einem fernen Land. Doch der äußerte sich nicht dazu. Ob es nun der Glaube an ein unabänderliches Schicksal, die Furcht vor den Haselnussstäben mit ihren seltsamen Zeichen oder die nackte Furcht vor dem Pfahl mit den gefräßigen Insekten war, die Männer konnten sich nicht entschließen, gegen Marabeos Herrschaft aufzubegehren.
VII
Abends am gemeinsamen Lagerfeuer erzählten die alten Leute gerne von früher, von Zeiten, als sie noch keine Schweine, Ziegen und Schafe gehabt hätten. Die Dörfer seien klein, aber sauber gewesen und es hätte nicht überall Tierkot herumgelegen. Es sei eine andere, ärmere Zeit gewesen, aber sie wären glücklicher gewesen – damals. „Wir hatten wenig Besitz, eigentlich gar keinen, aber wir waren trotzdem nicht arm, wir hatten Zeit – und Muße für die schönen Dinge des Lebens.“ So berichteten sie mit Wehmut in ihren Stimmen.
Viel hatte sich geändert in relativ kurzer Zeit. Dank des Ackerbaus und der Tierhaltung konnten jetzt sehr viel mehr Menschen ernährt werden. Die Familien wuchsen – und der von ihnen verursachte Abfall ebenso. Die großen Häuser für ganze Sippen waren aus der Mode gekommen, nun lebten die größer gewordenen Familien getrennt in ihren Häusern. Der Zusammenhalt innerhalb der Sippen wurde schwächer, denn die Menschen waren nicht mehr vom gemeinsamen Jagderfolg abhängig. Jetzt konnte jede Familie selbst entscheiden, wie viel Getreide sie anbauen wollte, sie musste nur fleißig genug sein. Im Winter war die Ernährung recht einseitig, und aufgrund der Tierhaltung kam es häufig zu Infektionen mit Würmern und anderen Parasiten. Die Menschen wurden kränker und starben früher. Wenn die Ernten schlecht ausfielen und die jagdbaren Tiere ausblieben, kam es zu Hungersnöten. Die Hungernden versuchten dann durch Überfälle die Vorräte der Anderen zu rauben, ihnen das letzte Stück von getrocknetem Fleisch und Fett zu stehlen. In diesen schlechten Zeiten nahmen die kriegerischen Auseinandersetzungen gewaltig zu.
Hirgelo war noch ein Junge, er kannte diese Zusammenhänge nicht. Er wusste nur, dass er und seine Geschwister viel arbeiten mussten. Insbesondere die anstrengende Feldarbeit war Hirgelo zuwider, viel lieber hätte er gespielt oder einfach faul in der Sonne gelegen und geträumt. Beeren sammeln war ihm noch die liebste Arbeit. er mochte die überreifen Früchte, besonders wenn sie zu vergären begannen, seinen Kopf benebelten und ihn dann noch schöner träumen und die schwere Feldarbeit vergessen ließen.
Die Felder lagen nicht weit von den Siedlungen. Sie waren aber nur für ein paar Jahre zu benutzen, dann war die Erde ausgelaugt und konnte keine nennenswerten Erträge mehr bringen. Deshalb mussten jeden Winter in mühseliger Arbeit neue Felder gerodet werden.
Sobald die Tage wärmer wurden, musste die Erde mit einer Hacke aus Holz oder Horn aufgebrochen werden, manche Familien hatten einen neuartigen Hakenpflug, der aus einem Stück einer starken Astgabel angefertigt worden war. Die Männer zogen ihn, während die Jungen den Pflug in die Erde zu drücken hatten. Nie machte Hirgelo dies nach Ansicht seines Vaters richtig, nie drückte er den Pflug tief genug in die Erde. Hirgelo hasste die schweißtreibende Arbeit.
Auch das Säen war mühsam und schon nach wenigen Stunden schmerzte Hirgelos Rücken. Jedes Korn musste er sorgfältig in die Furchen legen, keines durfte daneben gesät werden, weil es sonst von den Vögeln gefressen wurde. Später mussten die Feldfrüchte regelmäßig gehegt und gepflegt werden sowie sorgfältig mit Erdhacken vom Unkraut befreit werden.
Hirgelos Vater ging gerne zu seinen Feldern. Er freute sich, wenn die Pflanzen zu sprießen begannen. Zufrieden blickte er dann auf den grünen Schleier, der im Wind sanft über die Felder wogte, allmählich größer wurde und seine Farbe in ein goldenes Gelb änderte. Außerdem konnte er bei seinen Besuchen auf dem Feld die von Hirgelo und seinen Geschwistern geleistete Arbeit begutachten – und häufig seinem Ärger über die seiner Ansicht nach schlampige Arbeit Luft machen. Er machte dann nicht viele Worte, sondern schlug sofort zu. „Wir alle wollen leben. Und-das-geht-nur-wenn-die-Früch-te-gut-ge-dei-hen.“ Mit diesen Worten und rhythmischen Schlägen auf ihre Rücken versuchte er in bester Absicht, seine Kinder auf ein hartes und mühseliges Leben vorzubereiten.
Mit Faustmessern und Sicheln wurden die Halme geschnitten, in der Sommerhitze war die Arbeit noch schweißtreibender als im Frühjahr, Immer musste schnell gearbeitet werden, damit die Ernte trocken ins Haus gebracht werden konnte. Denn oft standen dunkle Wolken am Himmel, immer wieder war ein dumpfes Grollen zu hören, das Gewitter ankündigte. Wenn nicht die Arbeit eines Jahres zerstört werden sollte, musste die Ernte unbedingt noch vor dem Unwetter eingebracht sein. Das war harte Arbeit.
Irgendwie sah Hirgelo ein, dass diese Arbeiten erledigt werden mussten. Aber wenn sein Urgroßvater von früheren geruhsamen und friedlicheren Zeiten erzählte, war er sich nicht mehr so sicher. ʼFrüher hatten die Menschen doch auch ohne die stumpfsinnige Feldarbeit gelebt. Warum sollte das heute nicht mehr funktionieren?ʼ Wenn sein Rücken und seine Gelenke abends so stark schmerzten, dass er nicht einschlafen konnte, nahm er sich fest vor, später so zu leben, wie die Alten gelebt hatten. ʼAufregende Jagden - und süßes Nichtstun, das gefällt mir.ʼ
Angeblich waren die Menschen früher auch geselliger gewesen, hatten mehr Spaß miteinander gehabt. Wenn es stimmte, was der Urgroßvater sagte, waren sie früher auch zufriedener und gleicher gewesen. Jetzt gab es in jedem Dorf ein paar Familien – oder besser gesagt: Männer – die mehr hatten, die bestimmten, wie und wann was zu machen war. ʼWas hatten diese Besserwisser eigentlich den Anderen voraus? Nichts, als dass sie einfach ihre Familien härter arbeiten ließen.ʼ Solche Gedanken ließen Hirgelo nicht los.
Nach einem Winter, in dem die Nahrungsmittelvorräte wieder einmal knapp geworden waren, schien die Sonne wieder kräftiger, laue Winde durchfluteten das weite Tal. Die Bäume begannen zu sprossen, die Blumen zu blühen und die Vögel zwitscherten und hüpften in den sich grün färbenden Büschen aufgeregt umher. In dieser schönen Zeit, in der man den ganzen Tag fröhlich im Wald und auf den Auen hätte umherstreifen können, an einem dieser herrlichen Morgen bestimmte Hirgelos Vater, dass man heute pflügen werde. Gehorsam ging Hirgelo mit seinem Vater auf das neu gerodete Feld. Er strengte sich diesmal besonders an, in diesem Jahr wollte er seinem