Tod im ewigen Eis. Hans Säurle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Säurle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753128030
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nicht gestört, doch jetzt sah die Sache anders aus. Ihm oblag es, Schaden vom Dorf abzuwehren, dessen Schutz ihm von seinen Bewohnern und den Göttern anvertraut worden war. Woran also noch zweifeln? „Gilger hat seinen Platz in unserer Dorfgemeinschaft verwirkt!“ sprach der Häuptling laut und bestimmend. „Nehmt ihn gefangen und bring ihn gefesselt zu mir!“

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      In dieser Nacht konnte die Schwänin nicht schlafen. Sie wälzte sich auf ihrem Lager hin und her. ʼGilger darf nicht sterben, er ist noch so jung, Es war doch keine böse Absicht, als er auf Maluga als Zielscheibe in den Baum ritzte. Erst kürzlich hatten die Götter ihren Mann sterben lassen. Und jetzt Gilger? Wofür wollen sie uns strafen?ʼ

      Die Schwänin erhob sich und eilte auf die kleine Anhöhe, von wo sie auf ihren geliebten See sehen konnte. Der schon zu drei Vierteln volle Mond spiegelte sich silbern im ruhigen Wasser. Zwei Schwäne nahmen Anlauf im Wasser, hoben schwerfällig ab in die Luft und flogen hoch und höher. Sie flogen über den Wald und ihr Dorf. Seufzend schaute sie ihnen nach, bis sie aus ihrem Gesichtskreis verschwanden.

      In drei Tagen wird der Mond gerundet sein, in drei Tagen wird der Dorfrat sein Urteil fällen. Was konnte sie schon erwarten? Hatte sie doch selbst in jener denkwürdigen Sitzung den Ratschluss der Götter mitgeteilt. Maluga war inzwischen wieder wohlauf. Wofür sollte Gilger jetzt noch sühnen? Die Schwänin streckte sich, schüttelte ihren Kopf. Dann besann sie sich auf ihre Stärken. Sie konnte sich völlig geräuschlos bewegen, beinahe fliegen. Und sie hatte die schärfsten Messer, mit denen auch die dicksten Stricke rasch durchschnitten werden konnten.

      Die Schwänin musste sehr vorsichtig sein, denn der fast volle Mond verbreitete ein helles Licht. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle Dorfbewohner schliefen, schlich sie zu dem an einen Pfosten gebundenen Gilger. Rasch schnitt sie seine Fesseln durch und drückte ihn kurz an ihre Brust. So schnell sie konnten, flüchteten sie aus ihrem Dorf. Sich an den Händen fassend, passierten sie den Durchgang im Erdwall, bald schon hatte sie das Dunkel des Waldes verschluckt. Kein Dorfbewohner hatte etwas bemerkt.

      Leise führte die Schwänin ihren Sohn durch dichtes Unterholz bis zu einem Bach. In diesem wateten sie eine lange Strecke, so dass selbst Hunde ihre Spur verlieren würden. Endlich kamen sie zu einem kleinen Platz, wo die Schwänin schon tags zuvor an einem Baum zwei Tragegestelle mit allem Notwendigen aufgehängt hatte, das für eine längere Reise gebraucht wurde: In Gilgers Tragegestell hatte sie Messer und Beile, Schnüre und aus Wolle gewebte Kleider gepackt, selbst Gilgers Flöte hatte sie nicht vergessen. In ihren Sack hatte die Schwänin eine kleine Notapotheke mit Weidenrinde und Birkenporlingen gesteckt sowie ein Päckchen mit gelber Tonerde, das sie Okra nannte und für rituelle Zeremonien benutzte. Außerdem hingen an einem Ast ein Bogen und ein Köcher mit mehreren Pfeilen, in einem Sack waren Fladenbrote, und gedörrter Fisch. Gilger stopfte gierig das Brot und den Fisch in sich hinein und trank in großen Zügen. Die Schwänin schaute ihrem Sohn zu und freute sich, dass es ihm so gut schmeckte. Sie hingegen wollte weder essen noch trinken.

      Immer weiter dem Bach folgend, marschierten sie die ganze Nacht weiter, bis sie im Morgengrauen eine kleine Höhle fanden. Dort aßen sie den Rest ihrer Vorräte und ruhten sich für ein paar Stunden aus. Gilger war sofort eingeschlafen, in tiefen Zügen atmete er ein und aus. Die Schwänin jedoch fand keinen Schlaf. ʼHatte sie richtig gehandelt? Hatte sie sich an den Göttern versündigt? Würden sie und Gilger dies zu büßen haben? Jetzt schon bald oder sehr viel später erst?ʼ Diese Gedanken quälten sie sehr. Ihr Körper war todmüde, doch ihr Geist fand keine Ruhe. Sie fürchtete nicht so sehr, dass die Dorfbewohner sie finden könnten. Viel mehr ängstigte sie sich vor der Rache der Götter, der sie nicht entgehen konnten.

      Knackende Geräusche weckten sie aus einem schweren Traum. Gilger war aufgestanden, hatte trockenes Holz gesammelt, das er jetzt klein brach, um damit ein Feuer zu machen. Fröstelnd und schweißgebadet stand sie auf und setzte sich zu ihrem Sohn ans wärmende Feuer.

      „Was ist mit Dir?“ fragte Gilger und nahm sie in den Arm. „Du hast Fieber, Du wirst doch jetzt nicht krank werden.“

      Die Schwänin hüllte sich fest in ihre Kleider und zog ihren Fellumhang eng um sich. Der Kräutertee, den Gilger für sie gekocht hatte, wärmte sie. Sie trank ein paar Schlucke, essen konnte sie aber nicht. „Wir müssen weiter...“, sagte sie nur, stand auf, packte ihr Bündel und legte schon die ersten Schritte zurück. Gemeinsam marschierten sie in eine ungewisse Zukunft.

      Seit Tagen wanderten sie an einem großen Fluss entlang. Ansiedlungen von Menschen umgingen sie weiträumig, vermieden Begegnungen und Gespräche mit fremden Menschen. Die Schwänin wurde immer schwächer, nur noch kurze Wegstrecken bewältigte sie. Sie war verstummt, lebte in ihrer eigenen Welt. Von der Umgebung und selbst von ihrem geliebten Sohn nahm sie kaum mehr Notiz. Sie ließ sich von ihm führen und tat widerspruchslos alles, was er von ihr verlangte. Müden Schrittes schleppte sie sich voran. Sie aß nicht mehr, selten trank sie noch etwas Wasser.

      Eines Morgens stand sie nicht mehr auf. Abgezehrt bis auf die Knochen konnte sie nicht mehr, und sie wollte auch nicht mehr. „Was soll ich nur machen mit Dir?“ klagte Gilger. „Du hast mich vor dem Tod in unserem Dorf gerettet, und nun willst Du hier sterben. Wozu das alles?“

      „Ich werde nicht wirklich sterben. Ich fliege zu den Göttern. Der weiße Schwan wird sich um mich kümmern.“ Sie deutete mit schwacher Hand zum Himmel. „Dort oben werde ich weiter leben, von da aus werde ich auf Dich aufpassen. Lass mich hier liegen, hier ist ein schöner Platz. Ich kann einen See sehen, auf dem viele weiße Schwäne schwimmen. Kannst Du sie nicht sehen?“

      Die ganze Zeit war Gilger neben seiner Mutter gesessen, innerlich hatte er sich wie ausgetrocknet gefühlt. Vor lauter Müdigkeit musste er eingeschlafen sein – als eine Berührung ihn plötzlich aufschreckte. Er hatte im Schlaf die Hand ausgestreckt und den kalten Körper seiner Mutter berührt, ihm war als würde ein Messer mitten in seine Brust gestochen. Unfähig sich zu rühren, blieb er lange neben seiner toten Mutter liegen. Erst spät stahl sich eine Träne aus seinem Auge, dann aber setzte eine ganze Tränenflut ein.

      Gilger war jetzt alleine. In ihr Dorf konnte er nicht zurückkehren. Und auch nicht in andere Siedlungen der Aschkanen. Die würden ihn in sein altes Dorf bringen, wo ihn der sichere Tod erwartete. Jetzt erst recht, nachdem sie geflüchtet waren und es so aussah, als habe er in der Tat auf Maluga mit einem Pfeil geschossen und sie fast umgebracht.

      Eine große Leichenfeier konnte er für seine Mutter nicht organisieren, niemand würde zu ihrem Begräbnis kommen. Schweren Herzens hob er eine Grube aus und legte die Schwänin hinein, ganz vorsichtig, als wolle er ihr nicht wehtun. Er färbte ihr Gesicht und die Hände mit Okra, der gelben Erde, die sie in einem Säckchen die ganze Flucht über mit sich geschleppt hatte. Gilger zog ihr Schuhe und Mütze an und legte ihr den schönen Fellumhang um.

      Noch fehlt etwas, dachte er bei sich. Daheim hätte sie noch allerhand andere Dinge mit ins Grab bekommen, insbesondere Sachen, die sie als Mittlerin oft benützt hatte. Nicht weit entfernt lagen ein paar schöne weiße Federn, ihm dünkte, als ob sich ihr anderes Ich dazu gesellen wollte. Daneben lag ein wunderschöner Stein mit schwarzer Maserung. Als er ihn in die Hand nahm, veränderte er seine Farbe, von einem matten grau über gelbgrün bis tiefgrün.

      Einen so schönen lebendig erscheinenden Stein hatte Gilger noch nie gesehen. Das war zweifellos ein Zeichen der Götter, dass sie die Schwänin bei sich aufnehmen wollten. Dankbar nahm Gilger den Stein und legte ihn auf die Brust seiner Mutter. Damm bedeckte er den Leichnam mit frischen Gräsern und schaufelte mit beiden Händen das Grab zu. Auf die Erde steckte er weiße Schwanenfedern, mit denen er einen Kreis als Symbol für die Unendlichkeit bildete.

      Gilger trauerte noch drei Tage am Grab seiner Mutter. Dann erst raffte er sich schweren Herzens auf, um seinen eigenen Weg zu suchen. Er wanderte weiter dem großen Fluss entlang, bog in ein hübsches Seitental ein, wo er einem munter rauschenden Flüsschen bergwärts folgte. Aus der Ferne beobachtete er ein paar Mädchen, die volle Körbe mit leckeren Beeren nach Hause trugen. Er folgte ihnen, ohne sich ihnen zu zeigen. Ihm schien es sicherer,