Tod im ewigen Eis. Hans Säurle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Säurle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753128030
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kann das sein?“ fragte Öcetim ungläubig. „Dass man nie Hunger leiden muss?“

      „Bei uns gibt es keine Nomaden oder Jäger, nur Bauern. Und Priester, die beobachten die Sterne und sagen dann, wann die Bauern aussähen sollen, welche Opfer den Göttern zu bringen sind. Die Priester wissen sehr viel, auch hatten sie die Zeit eingeteilt, sie nennen das Kalender.“

      „Wie? Das verstehe ich nicht“, unterbrach ihn Hirgelo. „Wozu soll das gut sein und wie soll das funktionieren?“

      „Ganz einfach, aber auch ganz wichtig ist das. Damit man den richtigen Zeitpunkt der Aussaat kennt und man messen kann, wie lange alles dauert. Die Priester sagen, wann ein neues Jahr beginnt, das haben sie in Monde eingeteilt, auch die einzelnen Tage sind in verschiedene Abschnitte gegliedert. Gemessen werden diese tagsüber am Schatten der Sonne und nachts am Lauf der Sterne. Die Priester vom großen Strom sind nämlich sehr klug. Sie haben ihr Wissen von dem Einen mit den drei Gürtelsternen am Himmel.“ Namos deutete nach oben. „In seinem Namen regeln sie auch die Vorratshaltung und die Verteilung der Güter, in unseren Dörfern gibt es nämlich große Vorratskammern, in denen alles Wichtige gelagert wird, so dass wir bei schlechten Ernten darauf zugreifen können.

      Diese gut gefüllten Speicher reizten unser Nachbarvolk, das weiter oben am großen Fluss wohnte. Auch sie hatten meistens genügend Nahrung, litten keine Not. Doch sie waren faul und gierig, wollten immer mehr, konnten nie genug kriegen. Immer wieder überfielen sie uns, raubten unsere Vorratskammern aus, verschleppten die Frauen, bezwingen aber konnten sie uns nie. Denn der große Eine – Namos deutete auf den nächtlichen Himmel – an dessen Gürtel die drei Sterne der Gerechtigkeit, der Reinheit und der Mäßigung funkeln – war bei uns. Zusammen mit Uto, der Schlangengöttin, die sich um seinen Gürtel und um seine Lenden windet, beschützte uns dieser große Eine.“

      Namos holte tief Luft, fuhr mit den Händen durch sein wirres Haar, dann sprach er weiter: „Die vom oberen Fluss waren schlimm. Bisweilen meinte der große Strom es nicht ganz so gut mit ihnen, er schenkte ihnen manchmal etwas zu viel und manchmal zu wenig Wasser. Dann waren ihre Felder nicht so fruchtbar wie sonst und ihre Ernte fiel geringer aus. Vor allem aber waren sie maßlos und neidisch auf uns.

      Bei einem ihrer Überfälle wurde ich – damals noch ein Jüngling – gefangen genommen und verschleppt, sie verkauften mich an Männer, deren Sprache ich nicht verstand. Mit großen Schiffen brachten sie mich und andere Gefangene auf eine Insel, wo es Kupfer in großen Mengen gibt. Die Arbeit in der Mine war auch dort hart, das Essen war gut und jeden siebten Tag hatten wir frei. In diesen freien Tagen lernte ich, dass man durch Striche ziehen sich die Zahl der geförderten Kupferbarren besser merken konnte. Das Strichzahlensystem funktioniert gut, es zu erlernen fiel mir nicht schwer, vielleicht weil ich es als Kind schon im Unterstromland gesehen hatte.“

      „Durch Striche ziehen kann man feststellen, wie viele Dinge gefördert werden? So ähnlich wie Du es bei meinem Haselnussstecken gemacht hast?“ fragte Gilger erstaunt.

      „Ja, das geht. Das Striche machen ist einfach, im Grunde genommen ist es wie das Zählen mit den Fingern, nur eben nicht begrenzt auf zehn Finger, sondern Du kannst damit weiter zählen. Der zehnte Strich wird immer als ein Kreuz geritzt, damit man schnell die ersten zehn Zeichen erkennen kann. Bei uns wurden die Striche in feuchte Tontafeln geritzt, man setzte sein Zeichen dazu, damit man später noch wusste, wer gezählt hatte. Bei den Haselnussstöcken ist das genau dasselbe, nach neun Kerben macht man ein Kreuz, nach weiteren neun Zeichen ein Doppelkreuz, man muss also sehr genau arbeiten. Die Zahlen zusammen zu zählen ist nicht besonders schwierig. Aber schwierig ist es, sie wieder voneinander abzuziehen, wenn das mal sein muss, aber das kommt eigentlich fast nie vor.“

      “Gute Sache“, lobte Hirgelo anerkennend. „Das musst Du mir mal zeigen.“

      „Einverstanden, das machen wir mal. Auf alle Fälle machte ich meine Sache wohl nicht allzu schlecht und wurde somit Zähler und deshalb ein wertvoller Sklave, zu einem höheren Preis wurde ich weiter verkauft. Auf einem großen Schiff segelten wir mit Tüchern, die den Wind hielten, nach Westen zu einer kleinen Insel. Dort gab es kein Kupfer, sondern einen seltenen schwarzen, harten Stein, sie nannten ihn Obsida-un, aus diesem lassen sich extrem scharfe Messer, Beile und andere Waffen herstellen. Deshalb und vielleicht auch weil er so selten vorkommt, ist er sehr wertvoll. Auf dieser kleinen Insel war ich zwar nicht frei, aber ich hatte dort kein schlechtes Leben. Inzwischen hatte ich das Strichzahlensystem so gut beherrscht, dass ich es zu meinen Gunsten anwenden konnte.“

      Namos schnäuzte sich. Seine dunklen Augen leuchteten im Spiegel seiner Erinnerungen. „Manchmal, ganz selten, ließ ich einen kleinen Splitter Obsida-un in meine Tasche wandern und „vergaß“ einfach einen Strich zu machen. Das war nicht richtig von mir, jetzt weiß ich das. Aber damals…“ Er musste mehrfach schlucken. „Anfangs fiel das nicht auf, aber irgendwann eben doch. Ich wurde gefasst, gefesselt, mit Peitschenhieben bestraft – seht hier: auf meinem Rücken sind noch die Narben der Peitschenhiebe. Doch der Eine mit den drei Gürtelsternen, der oben am Himmel thront, meinte es gut mit mir. Sie peitschten mich nicht zu Tode, sondern verkauften mich weiter. Von Menschenhändlern wurde ich mit einem kleinen Boot auf das nahe gelegene Festland gebracht, dort ging es in vielen anstrengenden Märschen immer weiter nach Norden, durch Sümpfe, über Gebirge und große Flüsse – die aber lange nicht so groß waren wie mein Strom jenseits des großen Meeres. Mehrfach wäre ich an Hunger und Erschöpfung fast gestorben. Ich will Euch damit nicht langweilen, denn ihr kennt das ja auch. Jedenfalls, nach vielen Tagesmärschen, kam ich hier in dieser Kupfermine an. Jemand muss erzählt haben, dass ich das Strichzahlensystem beherrsche, also habe ich hier gleich die Arbeit im Laden erhalten, den Rest kennt ihr ja….“

      „Du hast am meisten von uns erlebt und kommst vom entlegensten Punkt der Erde“, meinte Öcetim nach einer längeren Pause.

      „Von einem seltsamen Land, von dem ich noch nie gehört habe“, ergänze Hirgelo. „Das unvorstellbar weit weg ist.“

      „Wohl viel zu weit weg, um jemals wieder heim zu gelangen“, sinnierte Gilger.

      „Ja, so wird es wohl sein, auch wenn ich die Hoffnung nicht aufgebe“, seufzte Namos mit einem sehnsüchtigen Blick zu dem hell am Himmel erstrahlenden Sternenbild mit den drei Gürtelsternen.

      VI

      Öcetim wurde zu Walober befohlen, der in einem Stollen drei schwer arbeitende Kinder beaufsichtigte. Zwei Buben und ein Mädchen schufteten darin, keines schien älter als zehn Jahre alt zu sein. Ohne Kopfschutz schlugen sie auf die sich nach rechts und nach links verzweigenden Erzadern. Der niedrige Stollen war in seinem Anfangsteil ungefähr so tief in den Berg geschlagen wie ein Mann lang war. Weiter drinnen teilte sich der Stollen in zwei niedrige Gänge, hier mussten die Kinder in Hockstellung arbeiten. Walober wachte streng darüber, dass ihre Steinschlägel ununterbrochen auf das erzhaltige Gestein einhämmerten und pausenlos Erze gebrochen wurden. Die Erzbrocken wurden in einem Holzschlitten gesammelt. Sobald dieser voll war, zog ihn Walober ins Freie und brachte ihn zu einer der Röststellen. Dabei hatte er immer ein Ohr für das Klopfen in der Höhle. Wurde dieses rhythmische Geräusch während seiner Abwesenheit unterbrochen, gab es Hiebe für alle Kinder, denn Walober machte sich nicht die Mühe, den Grund der Unterbrechung herauszufinden.

      „Der Junge dort und das Mädchen“, sagte er und deutete auf die beiden Kinder. „Die machen es nicht mehr lange, Du Öcetim kannst an deren Stelle klopfen.“ Walober stieß ihn grob in die Mine hinein. In dem niedrigen Minengang konnte Öcetim nur im Knien auf das Gestein einhauen. Dabei beobachtete er aus dem Augenwinkel den andern Jungen, der Öcetims Blick zu spüren schien, ihn aber nicht erwiderte. Mit grimmigem Gesichtsausdruck schlug er auf den Stein, als wolle er ihn vernichten. So entriss er dem Berg viele schöne und große rotbraune Brocken, viel mehr als Öcetim in derselben Zeit aus dem Gestein heraus schlagen konnte.

      „Wie heißt Du“, fragte ihn Öcetim, als Walober gerade mit seinem Holzschlitten die erzhaltigen Stücke zur Röststelle brachte. „Wo kommst Du her? Und wo sind Deine