„Die Coyos rennen verängstigt und ganz blind umher, die achten auf keine Flüchtenden. Lasst die Kupferstücke liegen, wo sie sind.“ Der sonst eher zurückhaltende Gilger hatte das Kommando übernommen und befahl die sofortige Flucht. „Lieber ohne Kupfer in der Freiheit, als mit Kupfer weiterhin in diesem Gefängnis! Los jetzt, laufen wir so schnell wir können!“
In dem allgemeinen Chaos achtete niemand auf die vier Flüchtenden. Öcetim, Hirgelo und Namos rannten zuerst zu der Stelle, wo ihre Hütte gestanden hatte. Dort fanden sie tatsächlich noch ein paar Steinklingen, Namos nahm Gilgers Trommel an sich, Hirgelo Pfeil und Bogen. Unbemerkt von den Coyos erreichten sie vor Anstrengung keuchend den Wald, wo Gilger schon auf sie wartete. Erschöpft ließen sie sich auf den Boden sinken. Doch Namos mahnte zur Eile. „Ausruhen können wir später. Meint Ihr, dass Wurkaz unser Fehlen nicht bald bemerken und die Coyos auf uns hetzten wird? Er wird sich bei allem Unglück die Gelegenheit auf unsere Marter am Pfahl nicht entgehen lassen.“
Die Angst vor der zu erwartenden Folter beflügelte sie und ließ sie neue Kräfte mobilisieren. Ohne auf Gestrüpp und dornige Zweige zu achten, stürmten sie durch den Wald, erst am späten Abend gönnten sie sich eine Pause. „Bis hierher werden uns die Coyos kaum gefolgt sein“, meinte Öcetim und ließ sich todmüde in den weichen Waldboden fallen.
IX
Das Wasser des Sees war warm, die Sonne schien kräftig und die Blüten der Bäume verwandelten das ganze Tal in eine Oase des Lichts und des Friedens. Die Tiere schienen fröhlicher als in den Wochen zuvor durch die Gegend zu springen und auch die schneebedeckten Berge in der Ferne sahen mit ihren weißen Spitzen irgendwie festlich gewandet aus. In den Seen und Tümpeln lebten mehrere Fuß lange Aale, Hechte und Lachse, im Schilfdickicht nisteten Vögel und das Land war bevölkert von zahlreichen Hasen, Rehen und kleinen Wildpferden. Abends mischten sich die Geräusche der Grillen und das Quaken der Kröten und Frösche zu einem Konzert, in das bisweilen die Wölfe mit ihrem Jaulen und Heulen einfielen. Enten, Hasen, Rehe und Schneehühner waren nicht scheu und leicht mit der Speerschleuder zu erlegen.
In dieser schönen Gegend, nicht weit vom See entfernt, entdeckte Hirgelo eine auf einer kleinen Anhöhe liegende Höhle, die einen schönen Blick auf den See bot. Davor lagen einige Pfosten, die als Stützen einer vor die Höhle gebauten Hütte gedient hatten. Früher hatten hier wohl Menschen gelebt, doch die hatten das schöne Tal offenbar schon vor langer Zeit verlassen.
Die früheren Bewohner hatten einiges von ihrer Ausrüstung zurück gelassen. Im hinteren Teil der Höhle fanden die vier Freunde nicht nur trockenes Brennholz, sondern auch einen großen Feuersteinkern, aus dem sie brauchbare doppelkantige Faustkeile und Steinbeile schlagen konnten. Auch scharfe Messer und Speerspitzen fertigten sie an, zudem Pfeile und Bögen. Aus den am Ufer des Sees wachsenden Riedgräsern und Binsen flochten sie bequeme Schlafunterlagen. Sogar angenehm riechende Kräuter wuchsen in der Nähe, die sie unter ihre Schlafunterlagen mischten, nicht nur um ihnen angenehme Träume zu bereiten, sondern auch um lästige Blutsauger wie Stechfliegen und Wanzen fern zu halten.
„Lasst uns im See schwimmen“, rief Hirgelo seinen Kumpanen zu. „Es ist so ein schöner Tag heute.“ Hirgelo hatte sich ausgezogen und war schon ins Wasser gesprungen. „Wunderbar weich und warm ist das Wasser hier.“ Auch Gilger und Öcetim liefen schnellen Schrittes in den See, so dass das Wasser hoch aufspritzte.
Namos schlenderte gemächlich ans Ufer, missgelaunt lief er vom Ufer fort zu einem umgefallen Baumstamm. Dort – in sicherer Entfernung – grollte er insgeheim seinen Kumpels, die anscheinend nur Blödsinn im Kopf hatten. ʼKaum sind wir außer Gefahr, da haben sie schon alle Vorsicht vergessenʼ, schmollte er. Gleichzeitig richtete sich sein Groll auch gegen sich selbst, er wäre gerne auch so ausgelassen wie Hirgelo, Öcetim und Gilger gewesen. Doch seine Art war es nicht, sorgenfrei das Leben zu genießen und sich einfach an dem zu erfreuen, was es gerade um ihn herum gab. Er war irgendwie anders als die Menschen, mit denen er hier in den Bergen fern seiner Heimat zusammen kam, auch im Jagen und Fischen war er weniger erfolgreich als die Anderen. Auch er hätte sich ganz gerne mit seinen Freunden im Wasser gebalgt, sich gegenseitig nassspritzen und untertauchen wollen, doch seine Wesensart hinderte ihn daran.
Sein Blick schweifte über die liebliche Landschaft zu einer Gruppe Fichten. Dort lag ein Geweih, das vermutlich im vergangenen Herbst von einem dreijährigen Hirsch abgeworfen worden war, es hatte kleine rückwärtsgewandte Sprossen. Mit seinem scharfen Flint-Messer machte er sich an die Arbeit. Er trennte die Geweihspitze ab, bohrte ein Loch an ihrem dickeren Ende, zog eine Leine durch es, spießte einen Regenwurm auf seinen neuen Haken und warf die Angel ins Wasser. Wenig später schon hing ein großer fetter Karpfen daran. Mit einem kräftigen Schlag auf den Kopf tötete er den zappelnden Fisch, dann suchte er Brennholz, zündete es mit Hilfe seiner Flintsteine an und grillte den fetten Fisch.
„Das riecht ja köstlich! Ist der Fisch vom Himmel gefallen oder sollte Namos ihn tatsächlich gefangen haben?“, frotzelte Hirgelo.“ Voll Übermut klopften sie ihm anerkennend auf die Schultern, aßen mit großem Appetit den fetten Karpfen und erfuhren erst dann, dass Namos ihn mit einer aus einer Geweihspitze angefertigten Angel gefangen hatte.
„Gute Idee“, stellte Gilger fest. „Das lässt sich ausbauen, ich brauche ein richtig großes Geweih, dann fange ich die größten Fische im ganzen See.“
„Also sollten wir uns bald auf die Hirschjagd machen“, forderte Öcetim.
Die vier jungen Männer hatten zwar noch nie bei einer Hirschjagd mitgemacht, doch aus den Reden der Jäger nachts an den Lagerfeuern hatten sie eine Vorstellung davon, wie Hirschjagden erfolgreich durchzuführen sind. „Wenn wir die Fährte des Herrschers des Waldes gefunden haben, müssen wir ihr nur folgen“, begann Gilger seine Überlegungen.
Am Horizont war eine Rauchsäule zu sehen, senkrecht kräuselte sie sich zum blauen Himmel hoch. Sie registrierten gleichzeitig, dass sie nicht alleine waren in dieser friedlichen Gegend und blickten sich erschrocken an. Hirgelo fand als Erster seine Sprache wieder: „Feuer aus!“ rief er. „Wir müssen nachsehen, wer sich dort aufhält - bevor sie uns entdecken.“
Im Schutz der Dunkelheit erreichten Gilger und Öcetim eine kleine Anhöhe, wo sie den Geruch von gegrilltem Wildfleisch wahrnahmen. Vorsichtig bewegten sie sich weiter, sich hinter jeder sich bietenden Deckung versteckend, bis sie auf einer Lichtung eine aus dünnen Baumstämmen, Ästen und belaubten Zweigen kunstvoll errichtete Hütte erblickten. Dort war eine große Familie versammelt: zwei Männer, zwei Frauen mittleren Alters, eine weißhaarige alte Frau, zwei Buben, die etwas jünger als sie selbst zu sein schienen, und ein Mädchen mit langen blonden Haaren. An der Hütte lehnten große Speere, Bögen, drei Steinbeile lagen daneben. Die Familie ließ sich ein fettes Wildschwein schmecken, lachte und unterhielt sich angeregt miteinander. „Wie das riecht“, flüsterte Öcetim, „Hoffentlich hören die meinen Magen nicht knurren.“
„Das Mädchen würde mir gefallen“, entgegnete Gilger. „Schau nur die schönen Haare – und hübsche Brüste hat sie auch schon.“
“Sich verstecken, weggehen oder den Kontakt mit der fremden Familie suchen, das ist die Frage“, fasste Namos ihre Möglichkeiten zusammen, nachdem die beiden Späher Bericht erstattet hatten.
„Mir gefällt es hier“, sagte Hirgelo. „Sie wissen nichts von uns, sie haben keine Wachen aufgestellt. Also überfallen wir sie“, schlug er vor.
„Aber das blonde Mädchen töten wir nicht“, warf Gilger ein.
„Vorsicht ist immer besser als unüberlegtes Drauflosschlagen. Lasst uns auf der Hut sein, und jede Nacht eine Wache aufstellen“, versuchte Namos den wilden Übermut seines Freundes zu zügeln.
„Wir sollten mehr