In der 36. Schwangerschaftswoche besuchte sie ihre Tochter, und ausgerechnet dort platzte meine Fruchtblase. Genau in dem Moment erschien zufällig Utes Mutter. Ob sie erstaunt oder erfreut war, die Tochter nach so langer Zeit zu sehen, konnte man ihr nicht anmerken. Sie riet Ute nur, kurz und knapp, am besten in der Klinik anzurufen.
Es war der 24. November. Für die Geburt war es eigentlich vier Wochen zu früh, denn der Termin war auf den 26. Dezember errechnet worden. Also kein Weihnachtskind? Ute war so überrascht, dass sie nicht wusste ob sie sich freuen oder ängstigen sollte. Fest stand jedoch, dass es mit der Geburt nicht mehr lange dauern konnte.
Bei dem Anruf in der Klinik sagte man ihr, sie möge sich schnellstens auf der Wöchnerinnen -Station melden. Ramona fuhr ihre Mutter mit ihrem Auto, erst nach Hause, die fertig gepackte Reisetasche holen, dann zur Klinik. Man wies Ute ein Bett zu, und Ramona verabschiedete sich freudig, denn nun konnte sie eine Woche mit Mutters Auto unterwegs sein.
Weil die Lungen des Säuglings noch nicht ausgereift waren, musste Ute Tabletten nehmen, wodurch die Geburt verzögert werden sollte.
Da lag sie nun, viel zu früh als erwartet in der Klinik und konnte doch froh sein, dass diese schlimme, unbewegliche Zeit endlich vorbei war. Obwohl sie sich eigentlich schon auf die Zeit danach vorbereiten konnte, denn nach der Geburt wäre sie doch endlich frei, war sie trotzdem seelisch am Ende.
Statt Pläne zu schmieden was sie alles wieder machen wollte, hatte sie das heulende Elend. Ihre Energie und Unternehmungslust waren blockiert, dabei musste sie sich doch gar nicht dem Säugling widmen? Den wollte sie doch sowieso abgeben. Warum heulte sie also?
Ihre Freundin Annette war ihre telefonische Dauer-Gesprächspartnerin, Annette versuchte sie aufzurichten und ihr Mut zu machen. Sie wurde nicht müde mir immer wieder die gleichen positiven Antworten auf Utes immer gleichen bangen Fragen zu geben. Was soll sie machen? Was wird ihre Zukunft bringen?
In einer Gesprächspause rief Vito an, und beschimpfte sie, weil er von ihren Adoptions-Plänen erfahren hatte. Weiß der Teufel von wem. Schnell legte sie den Hörer auf.
Das war der Moment in dem die Oberschwester ins Zimmer kam, die mit sicherem Blick sofort Utes nervlichen Zustand erkannte, deshalb fragte sie, ob sie ihr helfen könne. Ute vertraute sich ihr an, dass sie keinen anderen Ausweg sähe, als das Kind abzugeben. Die Schwester war sofort hilfsbereit, und ließ Ute in ein Einzelzimmer verlegen.
Ute war der Oberschwester der Ordens-Klinik sehr dankbar für die liebevolle und verständnisvolle Behandlung, die die Schwester ihr zukommen ließ. Auch weil sie anordnete, dass der Portier niemand, ohne Utes Zustimmung, zu ihr lassen dürfe, sodass bereits am Eingang unerwünschte Besucher abgewiesen wurden.
Mit der Unterstützung der Oberschwester, konnte Ute dann die Adoptions-Maßnahme einleiten. Schwester Barbara half, indem sie das städtische Jugendamt verständigte.
Bei der Unterhaltung mit dem Beamten des Jugendamtes musste Ute alle bisherigen Vorurteile gegen diese Behörde korrigieren, denn der Mann behandelte sie mit Feingefühl und Respekt. Am Ende des Gespräches unterschrieb Ute eine vorläufige Erklärung, dass sie gewillt war, das Neugeborene zur Adoption freizugeben.
Er klärte Ute darüber auf, dass sie nach der Geburt noch sechs Wochen Zeit zum Überlegen hatte, und dass er sich darum kümmern werde, dass sie den Säugling gar nicht zu sehen bekäme. Diese Versprechen sollten Ute wohl beruhigen. Sie bedankte sich zwar, aber beruhigt war sie keineswegs.
Drei Tage lang konnte sie nichts anderes tun, als weinen. Sie war nervlich, seelisch und moralisch am Ende. Fast den ganzen Tag telefonierte sie mit ihrer Freundin Annette, was aber immer von Weinkrämpfen unterbrochen wurde. Nichts vermochte sie zu beruhigen oder gar zu trösten.
Als man ihr am dritten Vormittag die Medikamente brachte, nahm Ute die Tabletten einfach nicht mehr. Sie warf sie in die Toilette. Sie wollte nicht länger warten und sich quälen, sondern die Geburt beschleunigen. Schon drei Stunden später setzten die Wehen ein und Ute wurde in den Kreißsaal gebracht. Sofort nach der kurzen Untersuchung setzte der Arzt ihr die Narkose-Maske aufs Gesicht. Danach wurde es dunkel.
Als Ute erwachte war sie in ihrem Zimmer und lag sie in ihrem Bett. Der Raum war abgedunkelt und das Telefon hatte man ausgestöpselt. Dass alles vorbei war, konnte sie fühlen. Aber genau das, die fühlbare Leere in ihrem Bauch löste einen Weinkrampf bei ihr aus.
Als sie sich gefangen hatte, stöpselte sie den Telefonkabel wieder ein, und rief direkt bei Annette an. „Es ist vorbei, Annette, und ich habe keine Ahnung ob es gesund ist, ich habe es nicht gesehen.“ Berichtete sie unter Tränen.
Annette versuchte die Freundin zu trösten, redete ihr gut zu, als Ute auf lauten Tumult vor ihrer Zimmertür aufmerksam wurde. Ute glaubte Vitos Stimme zu hören, aber dann war es auch schon vorbei. Es wurde ein langes Gespräch mit der Freundin, dem noch eins mit ihrer Tochter folgte, sodass sie ein paar Stunden beschäftigt war.
Kaum hatte sie nach Ende ihrer Telefonate den Hörer aufgelegt, als das Gerät wieder läutete. Es war Vito, er schrie laut, beschimpfte sie, sie sei eine Rabenmutter, dann werde er seine Tochter zu sich nehmen, das habe er schon mit seiner Frau geklärt. Sie wären eben in der Kinderklinik gewesen und hätten die Kleine besucht. Ute war darüber sehr empört, kappte die Leitung und hatte einen Nerven-Zusammenbruch.
Die wachsame Oberschwester Barbara war schnell zur Stelle und gab Ute ein Beruhigungsmittel. Dann besorgte sie für Ute eine andere Telefonnummer bei der Zentrale des Krankenhauses und sorgte auch dafür, dass keine Gespräche zu ihr vermittelt wurden. So hatte sie für Utes Ruhe gesorgt und Ute konnte nur noch selbst raus telefonieren. Die Stations-Schwester war wie ein Schutzengel ganz besonderer Art für Ute.
Aber ihren Seelenfrieden fand sie trotzdem nicht. Immer wieder überfiel sie das heulende Elend, konnte sie den Gedanken nicht verscheuchen, dass sie ihr eigen Fleisch und Blut verschenken wollte. Sie hatte Schwierigkeiten das mit ihrem Gewissen zu vereinbaren.
Dabei überlegte sie, dass sie dem Säugling damit sicher etwas Gutes tun würde, weil es bei ihr in eine unsichere Zukunft gekommen wäre. Als uneheliches Kind einer alleinerziehenden Mutter sähen die Zukunftschancen des Kindes nicht gerade rosig aus. Vielleicht fände es bei gutsituierten Leuten eine bessere Zukunft und ein behütetes liebevolles Zuhause?
Gleich darauf fiel ihr ein, wer oder was gäbe ihr denn die Garantie, dass dieses Zuhause immer so sicher und gut behütet bliebe? Was wäre, wenn diese Adoptiveltern sich irgendwann scheiden lassen würden? Was passierte dann mit dem adoptierten Kind? Wäre es dann ebenfalls bei einem alleinerziehenden Elternteil? Und was, wenn keiner von beiden Eheleuten das Kind haben wollte?
Ute zermarterte sich das Gehirn mit dem Abwägen der Möglichkeiten. Es machte sie fertig. Auch Annette wusste darauf keine Antwort.
Am Montagvormittag rief sie als erstes den Sachbearbeiter des Jugendamtes an und berichtete von Vitos Besuch bei dem Säugling. Der Beamte war empört, versprach sofort in der Kinderklinik angerufen, und sich bei der Stationsschwester zu beschweren. Er werde dafür sorgen, dass so ein Fehler nicht noch einmal passieren werde.
Damit hatte sie zwar dem Erzeuger einen Riegel vorgeschoben, aber Utes Gewissen beruhigte auch das nicht. Sie quälte sich noch den ganzen Tag mit trüben Gedanken, bis sie endlich einschlief.
Am nächsten Morgen fühlte sie sich wie gerädert, wüste Träume hatten ihren Schlaf unruhig gemacht. Dann kam ihr ein Gedanke, den sie sofort in die Tat umsetzte. Sie rief ihre Mutter an, und bat um deren Besuch.
Obwohl Ute ihrer Mutter ansehen konnte, dass sie sich sehr unwohl fühlte, saß ihre Mutter dann, zwei Stunden später, an Utes Bett. Zwar erkundigte sie sich höflich nach Utes Befinden, aber es war ihr anzusehen, dass sie etwas Unangenehmes befürchtete.
Ihre Direktheit verdankte Ute dem Gen ihrer Mutter, deshalb fragte sie ohne Umschweife: „Sag mir bitte, Mutti, wie verkraftet es eine Mutter ihr Kind zu verschenken?“
Statt