Die Maske aus schwarzem Samt. Claudia Thoß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Thoß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170861
Скачать книгу

      »Danke.«

      Wieder allein, schlüpfte Christoph aus seinem Mantel und entzündete eine kleine Petroleumlampe. Anschließend öffnete er das Fenster zum Lüften. Die Sonne ging unter und tauchte den Himmel in tiefes rot. Die Eiche direkt neben dem Fenster wirkte wie ein vom Himmel geworfener Schatten. Sanft wogen ihre Zweige im Wind. Christoph sog den vertrauten Geruch von Salz und Gras ein, der von der Küste her wehte. Wenn er genau horchte, vermeinte er sogar die Wellen zu hören, die sich an den Felsen brachen.

      Eine Melodie kam ihm in den Sinn. Das Schlaflied, das sein Vater ihm stets auf der Violine vorspielte, wie in der Nacht, in der Christophs Mutter starb. Er erinnerte sich daran, wie sie ihm früher vorgesungen hatte. Ihm sank das Herz, als er sich vom Fenster entfernte. Die Augen schließend, kam es ihm vor, als hörte er die Melodie selbst jetzt. Bald war er sicher, dass es nicht nur seine Einbildung war. Die Töne schwollen an, der Gesang wurde klarer und trug die vertrauten Strophen zu ihm hinauf. Christoph fuhr herum, um mit eigenen Augen zu sehen, ob er den Verstand verloren oder seinen Mentor gefunden hatte.

      Das Zwielicht gab nichts preis, daher schnappte sich Christoph seinen Mantel und rannte nach draußen, die Treppe hinunter, hinaus auf den Hof. Kaum eine Minute später stand er neben der Eiche und suchte außer Atem die Gegend mit den Augen ab. Der Gesang verstummte.

      Wie ein Geist trat Erik aus dem Schatten und blieb eine Armlänge von Christoph entfernt stehen. Stumm sahen sie einander an, wie bei ihrer ersten Begegnung. Erik trug einen Abendanzug und hatte die Maske wieder aufgesetzt, doch in seinen Augen lag ein goldener Schimmer, der Christoph faszinierte. Erst als Erik reglos verharrte, bemerkte Christoph sein Starren und riss sich los.

      »Da seid Ihr«, sagte er ohne die geringste Überraschung.

      Erik schnaubte, entspannte sich aber und schien hinter der Maske zu lächeln.

      »Es ist lange her.«

      »Kaum zwei Wochen.« Er entbot Erik seinen Arm. »Gehen wir ein Stück?«

      Einen Moment lang zögerte Erik, als sei er unsicher, ob er das Angebot annehmen sollte. Schließlich lehnte er ab und folgte Christoph schweigend.

      Sie liefen durch die anbrechende Nacht zur Küste, deren Felsen im Mondlicht schimmerten. Dort setzten sie sich in das dünne Gras, das seinen Weg durch die steinige Landschaft geebnet hatte. Die See lag still wie ein mächtiges, dunkles Tier, das friedlich schlief.

      »Bei Tag hätten wir vermutlich eine bessere Sicht, aber dann ...«

      »Es ist gut«, unterbrach Erik nonchalant. »Ich bevorzuge ohnehin die Nacht.«

      Christoph lächelte und fühlte, dass Erik es ihm gleich tat. Eine Zeitlang saßen sie stumm nebeneinander, betrachteten die Sterne und sogen die salzige Luft ein.

      »Als ich ein Kind war«, begann Christoph, »erzählte mir mein Vater gern Geschichten aus dem Norden. Eine handelte von einem Mädchen namens Lotte: Sie liebte Tagträumereien und ihre Geige, aber am liebsten hörte sie vor dem Schlafengehen dem Engel der Musik zu. Jede Nacht besuchte sie der Engel und sang für sie. Inspiriert von den himmlischen Melodien, spielte Lotte ihre Geige bald besser als viele derer, die älter waren als sie.«

      »Sind wir hier, damit du in deinen Kindheitserinnerungen schwelgst?«, fragte Erik rundheraus.

      »Nein. Durchaus nicht. Wir sind hier, weil ich Euch um etwas bitten möchte.«

      »Nur zu!«

      »Es ist so ...« Christoph wandte sich zu Erik um und suchte dessen goldene Augen, »Ich bitte Euch, mein Mentor zu werden.«

      Ein Wind kam auf, als Erik sich erhob. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, ohne einen bestimmten Punkt zu fixieren. »Das kann ich nicht tun«, antwortete er mit gesenkter Stimme.

      Christoph stand ebenfalls auf. »Ist Eure Entscheidung endgültig?«

      Erik zischte. »Was weißt du schon, Junge? Weshalb um alles in der Welt willst du so dringend mein Schüler werden?«

      Verblüfft über Eriks unerwartete Härte taumelte Christoph einen Schritt zurück. Dennoch entging ihm nicht Eriks Zittern. Der Mann in der Maske ballte die Hände zu Fäusten, wie um sich selbst zu beruhigen.

      »In Ordnung. Wenn es Euch eine solche Last ist … Verzeiht meine Unverfrorenheit. Ich werde nicht wieder fragen.« Christoph setzte sich erneut und zog die Knie zu sich heran. Sein Mantel schützte ihn kaum gegen den eisigen Wind, der vom Meer heraufzog. Die Kälte trieb Christoph Tränen in die Augen, doch er rührte sich nicht. Er hielt seinen Blick auf das Meer gerichtet, bis auch Erik sich wieder setzte.

      »Dieser Engel der Musik«, begann Erik, »Was hat dein Vater dir noch über ihn erzählt?«

      Letztlich machte Christoph der aufkommende Wind kaum etwas aus. Er blinzelte die Tränen weg und fasste sich. »Der Engel der Musik«, erzählte er, »war Bestandteil nahezu all seiner Geschichten. Jeder begabte Musiker, so sagte er, wird ihn eines Tages hören und durch das Vernehmen seiner Stimme Perfektion erlangen. Manche aber werden seine Stimme niemals hören, weil es ihnen an Hingabe zur Musik mangelt. Oft erscheint der Engel, wenn man am wenigsten damit rechnet. In Zeiten großer Verzweiflung und Traurigkeit.« Er unterbrach sich und überlegte, welche anderen Dinge sein Vater ihm erzählt hatte und weshalb er überhaupt davon angefangen hatte. Vielleicht, weil Daphne Erik so treffend mit dem Engel der Musik verglichen hatte, dass Christoph sich wünschte, die Erzählungen seines Vater wären wahr.

      »Ich verstehe.« Ein Moment verstrich. Dann drehte Erik sich Christoph zu und fragte: »Weshalb hast du ausgerechnet Kontratenor gewählt?«

      Die Frage war berechtigt, wenn man bedachte, dass Falsett im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert kaum jemanden interessierte. Erik hatte ein Recht zu erfahren, weshalb er seine Zeit jemanden opfern sollte, dessen Erfolgsaussichten bestenfalls mager waren. Für Christoph war es indes schwer in Worte zu fassen, weshalb er Falsett einem ausgeprägten Bariton vorgezogen hatte. Trotzdem versuchte er sich zu erklären: »Als ich klein war, sangen meine Mutter und ich oft Arien zusammen. Eine der Lieblingsarien meiner Mutter war Ninettas Arie aus La gazza ladra. Doch meine Mutter verstarb, als ich sechzehn war. Mein Vater versuchte, seine Trauer vor mir zu verstecken, aber mir war immer bewusst, wie sehr er sie vermisste. Er ermutigte mich, Gesangsunterricht zu nehmen, um an meinem Bariton zu arbeiten. Das tat ich auch, jedoch fühlte ich mich dabei stets … unvollkommen. Mir fehlten die Arien von früher. Als ich ihm davon erzählte, war er keineswegs überrascht. Er führte mich an den Falsett heran, wohl wissend, dass es schwer sein würde, einen geeigneten Lehrer zu finden, ganz zu schweigen von einem Opernhaus, das einen Kontratenor unter Vertrag nahm. Dennoch gab ich mein bestes. Ich bekam einen Platz am Konservatorium und hoffte … ich hoffte, den Kontratenor wieder einem Publikum näher zu bringen. Ich wollte nicht, dass seine Schönheit in Vergessenheit geriet.«

      »In der Tat eine noble Absicht«, merkte Erik an. Dann erhob er sich und straffte seine Schultern. In der Ferne ertönten Kirchenglocken. »Komm, Junge. Es ist nahezu Mitternacht. Sicher solltest du längst zurück sein.«

      Christoph stand ebenfalls auf. »Was ist mit Euch?«

      Hinter der Maske, so schien es Christoph, hob Erik eine Augenbraue. »Mach dir keine Gedanken. Wenn es dir nichts ausmacht, bringe ich dich zurück. Und wenn du es wünschst, triff mich morgen Abend am Grab deiner Eltern und ich werde dir La Résurrection de Lazare auf meiner Violine vorspielen.«

      Dem konnte Christoph nicht widerstehen. Auf dem Weg zum Gasthaus dachte er schweigend an seine Eltern und Eriks Angebot, für ihn auf der Violine zu spielen. Neben ihm herzulaufen fühlte sich gleichzeitig seltsam und wie die natürlichste Sache der Welt an. Erst als sie am Gasthaus ankamen, fiel ihm auf, dass Erik die ganze Zeit über eine Melodie vor sich hingesummt hatte, wie ein beständiges Hintergrundgeräusch, das Christophs Gemüt beruhigte.

      »Gute Nacht«, sagte Erik leise; als verabschiedete er einen Geliebten.

      »Aber wohin geht Ihr? Außer diesem gibt es weit und breit keinen einzigen Gasthof.«

      Vor Erstaunen brachte Erik