Die Maske aus schwarzem Samt. Claudia Thoß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Thoß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170861
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      In Anbetracht des Umstands, dass er sich mit einem schwarz maskierten Mann in einem Salon im fünften Kellergeschoss der Oper befand, gestand sich Christoph ein, dass seine Situation alles andere als normal war. Daher hielt er den Mund. Erst als der andere von ihm abließ, sagte er: »Gut. Ich werde für Euch singen. Versprecht Ihr, mich anschließend wieder frei zu lassen?«

      »Selbstverständlich.« Die Stimme hatte zu ihrem ruhigen, fast weichen Ton zurückgefunden. »Bitte, sing noch einmal für mich.«

      Christophs Herz hämmerte. Der unerwartete Umschwung von Wut zu Gelassenheit beängstigte ihn beinahe mehr als der Zornesausbruch zuvor. Dieser Mann würde ihm mit Sicherheit etwas antun, wenn Christoph nicht tat was er verlangte. Dennoch versuchte er Ruhe zu bewahren und sich nichts anmerken zu lassen. »Was also soll ich für Euch singen?«

      »Nobil core, che ben ama. Und wenn du es gestattest, begleite ich dich auf der Violine.«

      Christoph nickte, noch immer verunsichert, ob das Gentleman-Gebaren seines Gastgebers nicht innerhalb von Sekunden umschlug. Die Arie aus Partenope war ihm aus seiner Zeit auf der Akademie vertraut. Er schloss die Augen, vergegenwärtigte sich die Strophen und hob zu singen an.

      Wie eine Feder im Wind umspielte die Violine seinen Gesang, nahm sich zurück, wenn er die Unwandelbarkeit des Herzens besang und schwoll an, wenn der Gesang pausierte. Weshalb der andere sich gerade diese Arie gewünscht hatte, konnte Christoph nur vermuten. Doch er gab sich ganz der Musik hin und vergaß völlig die Welt um sie herum.

      Es folgte eine tiefe Stille. Sekunden verstrichen, ehe Christoph es wagte aufzuatmen. Der Mann in der Maske stand vor ihm wie angewurzelt, den Geigenbogen noch halb in der Luft, die Violine gesenkt. Christoph musterte ihn schweigend, als ihm ein leises Zittern auffiel. Es schien, als rang der Maskierte mit sich selbst.

      »Geht es Euch gut?«, fragte Christoph, indem er eine Hand ausstreckte. Doch der andere wich ihm aus.

      »Eine Sekunde nur.« Der Mann in der Maske wandte Christoph den Rücken zu und verbarg sein Gesicht in Händen. Immer heftiger bebte sein Körper und ein Seufzen löste sich aus seiner Kehle.

      »Danke«, sagte der Maskierte nach einer Weile. Seine Stimme klang hauchdünn, als rang er mit den Tränen. »Wie versprochen lasse ich dich gehen. Du bist frei.«

      Seit ihrem seltsamen Duett hatte Christoph nicht mehr an Flucht gedacht. Zu seiner eigenen Überraschung hörte er sich sagen: »Ich kann Euch so nicht zurücklassen.«

      »Bitte geh.«

      »Nein!«

      Der Maskierte fuhr herum, offensichtlich erzürnt über Christophs Weigerung. Seine Augen funkelten golden, sein Atem war Feuer. »Weshalb solltest du bleiben wollen?«

      Christoph runzelte die Stirn. »Zunächst finde ich den Weg allein nicht hinaus. Und zum anderen - auch wenn Ihr Euer Gesicht vor mir verbergt, so erkenne ich doch, dass Ihr tief bestürzt seid.« Er biss sich auf die Zunge; zu spät sah er ein, dass er mit seiner letzten Bemerkung eine Grenze überschritten hatte.

      »Weshalb sollte dich das kümmern?« fragte der andere irritiert. »Ich habe dich mitten in der Nacht entführt, in den Unterbau der Oper gezerrt und dich gegen deinen Willen singen lassen.«

      »All das ist mir bewusst.« Den Mann in der Maske umgaben Rätsel, die Christophs Neugier weckten. Doch er zögerte, diesen Gedanken weiter zu erörtern. Wenn er wirklich das Phantom war, war es gefährlich, hinter seine Geheimnisse zu kommen. Schließlich setzte er hinzu: »Dennoch bereitete mir das Singen mit Euch Freude. Euer Geigenspiel hat mir geholfen, die Bedeutung dieser Verse zu erfassen.«

      Schweigend sahen sie einander an. Weshalb der Mann in der Maske sich ausgerechnet dieses Stück gewünscht hatte, war Christoph noch immer nicht klar. Partenope gehörte nicht zu den populären Opern, die dieser Tage auf den Bühnen der Welt gespielt wurden. Offenbar besaß der andere ein umfassendes Wissen über klassische Musik und Kunst. Welch eine Verschwendung.

      Nach einiger Zeit des Schweigens hob der Maskierte ohne weitere Ankündigung erneut Geige und Bogen. Und er sang. Der weiche Klang seines Baritons füllte den gesamten Raum wie ein betörendes Rauschmittel. Wieder fühlte Christoph die Magie dieser Stimme. Er erkannte das Duett aus Roméo et Juliette, für das er die Rolle der Juliette zugeteilt bekam. Es beschämte ihn, dass der andere ihm den Part eines lyrischen Soprans zutraute. Die Augen schließend, versuchte er sich ganz auf die Musik zu konzentrieren und alles außer jener engelsgleichen Stimme zu vergessen.

      ***

      Erik raufte sich die wenigen Strähnen schwarzen Haares, die er besaß. Er musste völlig den Verstand verloren haben. Was in aller Welt hatte ihn dazu bewogen, Christoph aus seiner Garderobe zu entführen und in das unterirdische Versteck zu bringen? Ein Duett aus Roméo et Juliette - ausgerechnet diese Arie hatte Christoph mit einer Leichtigkeit gesungen, die Erik wünschen ließ, er singe die Worte aus tiefster Überzeugung.

      »Warum besucht Ihr nicht eine Aufführung wie normale Menschen?« Der Satz hallte in Eriks Kopf nach wie Hohngelächter. Aber Christoph traf keine Schuld. Dass der Junge nicht vor Angst auf die Knie gesunken war, nötigte Erik Respekt ab.

      Er atmete tief durch. Sein irrwitziger Plan, Christoph für sich singen zu lassen, hatte eine unerwartete Wendung genommen, als der Junge sich weigerte, an die Oberfläche zurückzukehren.

      »Du musst dich nicht sorgen«, versicherte Erik am Ende ihres Duetts. »Wie versprochen bringe ich dich zurück.« Doch es würde zu lange dauern, den ganzen Weg zur Garderobe durch die verwinkelten Korridore zurück zu laufen. Er legte die Violine beiseite und öffnete mit einer versteckten Feder die Tür zum See. Christoph folgte ihm in das Boot.

      »Verrate niemandem, was du heute Nacht gesehen hast.«

      »Das würde mir sowieso keiner glauben. Aber … würdet Ihr mir Euren Namen verraten?«

      »Mein Name tut nichts zur Sache.«

      Am anderen Ufer befestigte Erik das Boot. Als er sich nach Christoph umdrehte, ihm hinaus zu helfen, war dieser bereits selbst hinausgeklettert.

      Erik führte ihn durch einen Tunnel, der vor einem Eisengatter endete. Mit einem Schlüssel, den er an einer Kette um den Hals trug, öffnete er und entließ Christoph hinaus in die Nacht.

      »Das Tor führt zur Rue Scribe. Von dort bringt dich eine Droschke nach Hause.«

      Christoph sah ihn einige Sekunden lang an und nickte dann. Es war seltsam, ihn auf diese Weise zu verabschieden; als begleitete er einen guten Freund nach draußen, der auf einen Tee vorbeigekommen war. Unter anderen Umständen hätte er zum Abschied vielleicht die Hand gehoben. Aber Christoph drehte ihm den Rücken zu, noch bevor Erik diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte.

      »Ich heiße Erik«, sprudelte es aus ihm heraus. Er wollte noch einmal in dieses Gesicht sehen. Und tatsächlich wandte sich Christoph zu ihm um und nickte leicht, ehe er seinen Weg nach draußen fortsetzte.

      Das Versteck wirkte mit einem Mal leer und kalt. Erik atmete tief ein. Ihm war, als hinge noch etwas von Christophs Geruch in der Luft, als könne er seine Präsenz noch spüren. Dabei wusste er, es war reines Wunschdenken. Ein Wahn, der ihn überkommen hatte, nachdem er Christoph auf der Gala hatte singen hören. Natürlich von seiner Loge aus. Wie so oft hatte er seiner treuen Logenschließerin Giry eine Schachtel Konfekt hinterlassen. Sie sollte wissen, dass er auch unter dem neuen Management ihre Dienste schätzte.

      Besagtem Management galt es einen Brief zu schreiben. Die monatliche Summe von 200.000 Francs wurde fällig und er verließ sich nicht darauf, dass Debienne und Poligny ihre Nachfolger ausreichend über die Konditionen für Loge fünf unterrichtet hatten. Zudem galt es sie in Kenntnis zu setzen, dass es Konsequenzen hatte, sollten sie sich den Forderungen des Phantoms widersetzen.

      Kapitel 2: Briefe

      Firmin Richard und Armand Moncharmin waren seit drei Tagen im Amt, als sie einen mysteriösen und