Die Maske aus schwarzem Samt. Claudia Thoß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Thoß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170861
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eine Feder zu halten. Folgendes stand darin geschrieben:

       Meine sehr geehrten Herren Direktoren,

       ich bedauere Sie zu behelligen, während Sie für die Oper wichtige Engagements erneuern, neue Verträge unterzeichnen und allgemein Ihren guten Geschmack beweisen. Wie Ihre Vorgänger Ihnen sicher mitteilten, ist mein monatliches Salaire von 200.000 Francs fällig. Alsbald lasse ich Ihnen Anweisungen bezüglich der Auszahlung zukommen. Zudem möchte ich Sie erinnern, stets Loge fünf für mich frei zu halten. Meine Anweisungen zu missachten rate ich Ihnen ab.

       Ihr ergebener Diener O.G.

      Richard fand den Brief in einem versiegelten Umschlag auf seinem Schreibtisch, nachdem er am Morgen die Tür zu seinem Büro aufgeschlossen hatte. Zunächst hielt er es für einen schlechten Scherz Moncharmins, aber sobald sein Geschäftspartner eintrat, zeigte sich, dass keiner von beiden daraus schlau wurde.

      »Wer ist überhaupt dieser O.G.?« brüllte Richard. Sein Gesicht lief purpurn an und Moncharmin hätte schwören können, das Pochen in den Schläfen seines Kollegen zu hören. Er versuchte ihn zu beruhigen:

      »Mein lieber Richard, offensichtlich handelt es sich um einen Scherz. Jemand muss sich Zutritt verschafft haben, während wir fort waren. Wer außer uns besitzt einen Schlüssel?«

      »Natürlich muss jemand hinein gelangt sein! Wie sonst erklärst du dir das?« Er wedelte mit dem Brief vor Moncharmins Nase herum. »Bestelle Sekretär Remy her! Sofort!«

      Erik in seinem Versteck unter einer der geheimen Falltüren unterdrückte ein Kichern. Fast tat Remy ihm leid, der ebenso wenig über den Brief zu sagen wusste wie Moncharmin. Erbarmungslos befragten ihn die beiden Direktoren, einer nahe am Wahnsinn, der andere scheinbar kühl und reserviert. Remy stammelte seine Antworten, mit Sicherheit schaudernd unter den Augen seiner Vorgesetzten. Als Erik genug von ihrer kleinen Auseinandersetzung gehört hatte, entkam er in die unteren Stockwerke, tauchte unverhofft in einem Korridor auf, huschte vorbei an einigen Ballerinen. Doch als diese sich nach ihm umdrehten, war er bereits hinter der nächsten Geheimtür verschwunden.

      »Es ist das Phantom!«, hörte er sie flüstern. Kichernd gingen sie weiter. Einfältige Kälber, die sie waren, hatten sie keine Vorstellung, wie nah sie der Wahrheit waren. »Das befrackte Skelett« nannten sie ihn zuweilen. Es traf zu, er war dürr wie ein Gerippe, dafür entkam er flink durch den schmalsten Spalt. Gesehen wurde er nur dann, wenn er es wollte, andernfalls bewegte er sich unbehelligt durch das Palais Garnier. Diesmal nahm er eine Abkürzung in die dritte Versenkung. Er eilte zurück zu seinem Haus am See, um sogleich einen neuen Brief aufzusetzen.

       ***

      Als Erik das Louis-Philippe Zimmer betrat, vernahm er den Schrei der Sirene. Jemand musste in die dem Versteck vorgelagerte Folterkammer gefallen sein. Eine Vorsichtsmaßnahme, die sich als notwendig erwies. Erik schnaubte, als er den Ton abstellte und nach dem bedauernswerten Opfer sah. Wer wagte es? Und war die Person noch am Leben? Weshalb kamen die Leute ungefragt zu ihm? Es war nicht so, als bereitete das Töten ihm Freude.

      Die Folterkammer, eine hexagonale Spiegelkammer aus deren Ecke ein eiserner Ast herausragte, war dunkel, als Erik die Tür öffnete. Ein kühler Hauch kam ihm entgegen, unterlegt von einem leichten Geruch nach Erbrochenem. Erik bedeckte das, was seine Nase hätte sein sollen, und machte sich daran, die Kammer zu untersuchen. Alsbald entdeckte er den armen Narren mit dem Punjab-Lasso um den Hals gezurrt.

      »Armer, unglücklicher Buquet«, murmelte Erik vor sich hin. »Immerzu unachtsam. Sie waren gewarnt.« Er löste das Lasso, an dem Buquet hing, von dem Ast, darüber grübelnd, den Kulissenschieber in die dritte Versenkung zurückzuschaffen. Er musste den Leichnam so schnell wie möglich loswerden. Sollte jemand anderes sich um die Überreste kümmern.

       ***

      Sekretär Remy, verwirrt und ratlos wegen der Briefe an die Direktion, fühlte sich weiter in Verlegenheit gebracht, als Richard rief: »Was im Namen Meyerbeers geht da draußen vor?« Der Direktor schwang die Tür auf und stapfte in den Korridor. Remy folgte ihm, erstaunt, nahezu das gesamte Corps de ballet vor dem Büro versammelt zu finden. Alle schnatterten durcheinander, aufgeregt wie eine Schar junger Amseln.

      »Was hat das zu bedeuten?« explodierte Richard.

      Die Ballettratten verstummten sofort und starrten ihn an. Gerade als Richards Gesicht nicht mehr hätte röter werden können, trat eines der Mädchen vor und flüsterte: »Es war der Operngeist!«

      »Verzeihung?«

      »Wir haben ihn gesehen! Der Operngeist verschwand vor unseren Augen!«

      Unterdessen war Moncharmin dazu getreten, um herauszufinden was diese Aufregung bedeutete.

      »Der Operngeist! Ich verstehe. O.G.! Moncharmin, da haben wir es!« Richard drehte sich nach seinem Geschäftspartner um. »O.G. steht offenbar für Operngeist!« Dann wieder an die Ballerinen gewandt: »Und was wollte er von euch? Hat er nach Geld verlangt?«

      »Nein, Monsieur. Er hat nichts verlangt. Er ging vorüber und verschwand dann einfach.« Das Mädchen sprach mit einer Aufrichtigkeit, dass Richard sich am liebsten in die Faust gebissen hätte.

      Remy fühlte sich genötigt einzugreifen. »Gutes Kind, seien Sie nicht albern. Sie verschwenden jedermanns Zeit. Bitte kehren Sie zu Ihren Proben zurück.« Er klatschte in die Hände und versuchte sie fort zu scheuchen, doch keines der Mädchen beachtete ihn. Sie starrten weiterhin auf Richard und Moncharmin; letzterer legte Richard eine Hand auf die Schulter in dem Versuch, die Wut seines Kollegen zu dämpfen.

      »Nun gut. Lassen Sie uns über eines im Klaren sein: Geister existieren nicht in dieser Welt. Was oder wen Sie auch gesehen haben, ehe Sie herkamen, es handelte sich um einen Mann aus Fleisch und Blut.«

      »Aber Monsieur -«

      »Genug! Tun Sie, wozu Sekretär Remy Ihnen geraten hat und verschwenden Sie nicht weiter unsere Zeit.«

      Moncharmin nickte zu den Worten Richards, als die jungen Tänzerinnen ihn erwartungsvoll ansahen. Damit war die Angelegenheit entschieden.

      Sobald die Ballettmädchen den Korridor hinab entschwunden waren, verschanzten sich die beiden Direktoren mit Sekretär Remy erneut im Büro.

      »Damit ich das richtig verstehe«, fasste Richard zusammen, die Augen zu Schlitzen verengt, »Da ist ein Operngeist, der von uns eine monatliche Summe von 200.000 Francs erpresst. Andernfalls … nun, was? Wird er unseren Corps de ballet entführen?«

      Remy räusperte sich. »Wenn ich etwas sagen darf. Ihre Vorgänger erwähnten mir gegenüber keinen Geist, aber Gerüchte um ein Phantom halten sich seit geraumer Zeit. Niemand hat es jedoch je gesehen. Allein Madame Giry behauptet, es in seiner Loge gehört zu haben.«

      »Nun, diese kleine wie-hieß-sie-noch behauptete ebenfalls, sie habe einen Geist gesehen. Welchen Reim machen Sie sich darauf, Remy?«

      »Keinen, Monsieur. Dieser Tage schreiben diese Mädchen jedes kleine Missgeschick dem Phantom zu. Sogar -«

      »Monsieur Richard! Monsieur Moncharmin!« Eine aufgebrachte Madame Giry unterbrach sie, indem sie ungefragt das Büro betrat. Einige Sekunden schnappte sie nach Luft, dann setzte sie an: »Messieurs, bitte kommen Sie sofort! Es gab einen Unfall!«

      »Einen Unfall?« riefen Richard und Moncharmin einstimmig.

      »Ja! Joseph Buquet ist tot! Man fand ihn erhängt im dritten Kellergeschoss, nahe der Kulisse für Le Roi de Lahore

      Die Direktoren sahen einander an, dann zurück zu Madame Giry. Das Gesicht der Logenschließerin war bleich wie Papyrus, aber sie wahrte gerade genug Fassung, um auf Richards und Moncharmins Fragen zu antworten.

       ***

      Eiligst verließ Erik sein Versteck in der dritten Versenkung, holte sein Lasso und entschwand hinter einer der geheimen Falltüren. Das Verschwinden des Punjab-Lassos würde mit