Die Maske aus schwarzem Samt. Claudia Thoß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Thoß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170861
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offen und gab den Blick auf das zum Altar führende Mittelschiff frei. Ein hölzernes Kruzifix mit einem vergoldeten Christus hing darüber. Christoph näherte sich andächtig, bekreuzigte sich und setzte sich anschließend auf eine der Bänke. Er faltete die Hände zum Gebet. Doch er kam nicht weit. Seine Gedanken kreisten immer wieder um die Nacht zuvor. Erik hatte ihn als Schüler abgewiesen. Obwohl Christoph damit gerechnet hatte, stimmte es ihn traurig. Ohne Mentor hatte er keine Möglichkeiten, seine Fähigkeiten über sein bisheriges Maß zu entwickeln. Und nun, da er Erik kannte, erschien ihm jeder andere Mentor unterlegen.

      »Oh Vater, warum hast du mir den Engel der Musik geschickt, nur um ihn mir wieder zu nehmen?« Seine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Außer ihm knieten drei weitere Gläubige betend, doch sie beachteten ihn nicht.

      »Ich weiß, es ist falsch mir zu wünschen, er möge seine Meinung ändern. Und doch kann ich an nichts anderes denken.« Er hielt inne. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass seine Gedanken sich ausschließlich um Erik drehten, seit er Paris verlassen hatte. Deshalb hatte er Raoul abgewiesen. In seinen Gedanken war kein Platz für den Vicomte gewesen.

      Christoph presste seine Hände fester aneinander, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Seufzend vergrub er sein Gesicht. »Vater, gib mir die Kraft, das richtige zu tun. Ich habe Angst, das wird kein gutes Ende nehmen.«

      Anschließend betete er für die Seelen seiner verstorbenen Eltern.

       ***

      Zum Abendessen traf Christoph erneut auf Raoul. Sein Freund schaute finster drein und lief unruhig auf und ab, bis die Wirtin den Wein brachte. Schweigend nahmen sie ihr Essen ein. Über sein Weinglas hinweg fragte sich Christoph ob Raoul ihm seinen überstürzten Aufbruch am Morgen noch immer übel nahm.

      »Wie war dein Tag?«, unterbrach er unverhofft Christophs Gedanken.

      Einen Moment lang irritiert sah Christoph ihn an. »Gut. Ich war in der Kirche, wie ich bereits sagte.«

      »Den ganzen Tag?«

      »Ja. Ich brauchte Zeit, mir über einige Dinge klar zu werden.«

      »Was für Dinge?« Raoul klang ernstlich besorgt.

      »Dinge aus der Vergangenheit und Dinge der Gegenwart. Ich kann es nicht genau erklären.«

      »Ich verstehe.«

      In aller Stille setzten sie ihr Mahl fort.

      Dann, sein Glas erhebend, sagte Raoul: »Ich weiß nicht, was dich beschäftigt, aber was immer es ist, du musst nicht allein damit fertig werden. Wenn ich dir helfen kann, zögere nicht, mich zu fragen.«

      Verdutzt warf Christoph Raoul einen Blick zu. Nach dem Frühstück hatte er angenommen, der andere bereute seine Reise nach Perros und sei wortlos abgereist. Immerhin war er gekommen, um Abschied zu nehmen. Zumindest hatte er das behauptet.

      »Danke.« Christoph brachte es nicht fertig, Raoul von Erik zu erzählen. Wie er den anderen kannte, würde er weit mehr als nur den Namen in Erfahrung bringen wollen. Wenn er erst vom Phantom der Oper wusste, wäre Erik in großen Schwierigkeiten. Ein Wagnis, das Christoph nicht bereit war einzugehen.

      Stattdessen fragte er: »Was hast du unternommen, während ich in der Kirche war?«

      »Nicht viel«, gab Raoul zu und stellte sein Glas ab. »Die meiste Zeit habe ich im Gasthaus zugebracht und auf dich gewartet.«

      »Das hättest du nicht tun sollen.«

      »Schon gut. Auch ich musste mir über einiges klar werden.«

      »Was denn?«

      »Ich habe daran gedacht, meinen Militärdienst um einige Wochen zu verschieben.«

      Christoph riss die Augen auf. »Aber … geht das denn?«

      »Sorge dich nicht. Ich habe bereits ein Telegramm mit der Bitte um Aufschub gesendet. Ich bin guter Dinge.«

      »Ich verstehe.« Christoph trank einen Schluck Wein.

      »Du scheinst mir nicht besonders froh über die Neuigkeiten.«

      »Oh, doch. Es kommt nur sehr überraschend.«

      Raoul schmunzelte. »Mehr Wein?«

      »Danke.«

      Als sie nach dem Essen einander Gute Nacht wünschten, fühlte Christoph sich entspannter. Ob wegen des Weins oder aus Überzeugung, wusste er nicht zu sagen. Während ihrer Unterhaltung war ihm klar geworden, dass Raoul ihm aus Sorge nachgereist war. Ob er Angst hatte, Christoph könne erneut spurlos aus seinem Leben verschwinden? Das war eine Frage, die er sich stellte, seit Raoul ihn über die Verschiebung seines Militärdienstes unterrichtet hatte.

      Gegen Mitternacht bereitete sich Christoph darauf vor, den Gasthof erneut zu verlassen. Ausgestattet mit einer Laterne und einem Päckchen Zündhölzern schlüpfte er hinaus in die Nacht. Der Mond schien prächtig am wolkenlosen Himmel. Christoph eilte durch die menschenleeren Gassen zum Friedhof.

      Die Dunkelheit dort war anders beschaffen, als habe man verschiedene Schattierungen miteinander zu einem schwarzen Band verwoben. Er entzündete die Laterne und trat durch das Tor.

      Die Schritte hallten in seinen Ohren und er hörte seinen Atem. Bis zu jenem Moment war ihm nicht bewusst, wie sehr er fror. Seinen Mantel enger um sich ziehend, folgte er dem Weg, der auf die Kapelle zuführte. Er besann sich, dass Erik ihn am Grab der Daaés treffen wollte.

      Als Christoph die Richtung änderte, nahm er eine feine Veränderung in der Luft wahr. Der Wind schien eine Melodie zu ihm zu tragen, sanft, doch vernehmbar. Christoph schloss die Augen, ließ die Laterne stehen und folgte blind der Musik. Mit jedem Schritt wurde sie lauter. Sie ergriff ihn mit Armen, sanft wie der Wind selbst, und zog ihn auf einen magischen Pfad. Ihm blieb keine Wahl, als dem Ursprung dieser Melodie zu folgen. Die Seufzer einer Violine ließen ihn erbeben.

      Er öffnete die Augen und fand sich in einem Meer aus Kerzenlichtern. Atemlos sank er auf die Knie und streckte seine Arme gen Himmel, als wollte er einen Geist umarmen. In seine Augen traten Tränen und er schluchzte auf, als er die vertraute engelsgleiche Stimme sich über die Violine erheben hörte. Es verlangte ihn, sie zu berühren, doch alles, was seine Hände griffen, waren Schatten. Die Stimme sang immerfort. Erst als Christoph sich wie verzaubert nach vorn beugte, verstummte die Musik plötzlich und Erik trat aus der Dunkelheit. Gleichwohl sein Gesicht wie stets hinter einer Maske verborgen war, sprach er mit sanfter Stimme: »Lektion eins: Du musst dich völlig der Musik hingeben!« Er legte Christoph seine behandschuhte Hand auf die Stirn, als wollte er ihn segnen. Oder mit einem Fluch beladen. Dann streckte er Christoph die Hand entgegen, um ihm aufstehen zu helfen. Zögernd sah Christoph ihn an. Doch ehe er Eriks Hand ergreifen konnte, hörte er ein Rufen.

      »Christoph! Bleib zurück! Er ist gefährlich!«

      Christoph fuhr herum und erkannte Raoul, der auf sie zu rannte. In der Hand trug er eine Pistole, mit der er auf Erik zielte. Erik stellte sich vor Christoph, der die Begegnung gebannt verfolgte.

      »Christoph, bitte geh jetzt«, befahl Erik.

      Kerzen flackerten und erloschen. Das brachte Christoph zur Vernunft. Umgehend gehorchte er, wissend, dass es kein gutes Ende nahm, wenn er den beiden in die Quere kam. Doch allein lassen konnte er sie ebenso wenig, daher versteckte er sich hinter einem Berg aus Knochen nahe der Kapelle. Von dort aus beobachtete er das Geschehen, unschlüssig, was er tun sollte. Was machte Raoul auf dem Friedhof? War er ihm gefolgt? Wie kam er dazu, Erik herauszufordern? Mit dem Wissen um Raouls Schießkünste fürchtete Christoph um Eriks Leben. Selbst wenn die Dunkelheit ein genaues Zielen unmöglich machte.

      Ein Schuss zerriss die Nacht. Christoph zuckte zusammen, verließ sein Versteck und rannte zurück zu Erik. Mitten in der Bewegung hielt er jedoch inne.

      Flink wie ein Pfeil duckte sich Erik unter Raouls Angriff hinweg und holte augenblicklich zum Gegenangriff aus. Aus dem Nichts zückte er das Punjab-Lasso und schlang es Raoul um den Hals. Starr vor Schrecken beobachtete Christoph, wie Raoul in die Knie ging. Doch selbst als er nach Luft