Die Maske aus schwarzem Samt. Claudia Thoß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Thoß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170861
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Zeit, sich zurückzuziehen. In seinem Kopf drehte sich alles, er musste sich beruhigen, brauchte die Musik, um wieder klar denken zu können. Mehr noch brauchte er sein Morphium.

       ***

      »Es darf nichts an die Öffentlichkeit! Buquets Tod ist offiziell ein tragischer Selbstmord.«

      Moncharmin stimmte Richard zu und nahm Madame Giry erneut das Versprechen ab, bei ihrer Version der Wahrheit zu bleiben. »Sagen Sie es den Mädchen, falls die Sie fragen sollten. Die Polizei hat es bereits als Tatsache akzeptiert«, log er.

      »Wie Sie wünschen, Messieurs.« Girys Hände ballten sich in ihrem Rock, als sie den Kopf neigte.

      »Und kein Wort mehr über das Phantom. Die Leute kommen nur auf dumme Gedanken.«

      »Welche Gedanken, Monsieur?«

      »Nun, erstens,« brummte Richard missvergnügt, »könnte man Sie für verrückt halten.«

      Madame Giry blinzelte. »Aber ich bleibe weiterhin seine Logenschließerin, oder? Und überbringe seine Briefe?«

      »Pardon?«

      Ehe Richard Gelegenheit bekam erneut zu poltern, sagte Moncharmin mit einem schmalen Lächeln: »Selbstverständlich. Danke für Ihre Dienste. Sie dürfen sich zurückziehen.«

      Als die Logenschließerin draußen war, knallte Richard seine Faust auf den nächstbesten Tisch. »Ist das ein schlechter Scherz? Zuerst die Briefe, nun Buquet. Falls irgendetwas davon publik wird, wird der Vicomte vermutlich bald nicht mehr so großzügig sein.«

      Moncharmin blieb unbeeindruckt. Er ging um den Tisch herum und setzte sich. »Mit Sicherheit handelt es sich um keinen Scherz, mein lieber Richard. Es ist eine Intrige und jemand zieht im Hintergrund die Fäden. Und ich bin ganz bei dir, der Vicomte wird es sich zweimal überlegen, sollte er je hinter die Geschichte mit dem Phantom kommen. Aber sorge dich nicht. Lass das die Polizei untersuchen. Bald haben wir den Schuldigen gefunden. Gegenwärtig führen wir unsere Geschäfte einfach fort wie gewohnt.«

      Richard atmete tief durch. »Du hast recht. Es lässt sich nicht ändern. - Wo ist Sekretär Remy?« Erst jetzt fiel Richard dessen Abwesenheit auf.

      »Gegangen. Mir scheint, du bist nicht bei der Sache. Soll ich ihn herkommen lassen?«

      »Nein. Nein, vielen Dank.« Richard nahm ebenfalls Platz und begann, einige Papiere durchzusehen. »Allerdings sollte jemand Buquets Familie benachrichtigen.«

      »Betrachte es als erledigt.«

       ***

      Die Nachricht vom Tod Buquets verbreitete sich rasch unter den Angestellten; manche beschuldigten das Phantom, während andere an einen Unfall oder sogar Selbstmord glaubten.

      Als Christoph erstmals davon hörte, tat es ihm leid um den Kulissenschieber, obwohl er ihn kaum gekannt hatte. Er hoffte nur, das Phantom habe damit nichts zu tun. Dennoch erzählte er niemandem von seiner Begegnung mit Erik. Er dachte daran, Madame Giry zu befragen, denn sie schien mehr als andere zu wissen. Immerhin behauptete sie, die persönliche Logenschließerin des Phantoms zu sein.

      Nach den Proben kehrte Christoph in seine Garderobe zurück, zog das Briefpapier aus der Schublade des Chiffoniers und schrieb zügig ein paar Zeilen. Seine Gedanken trieben unruhig umher. Er musste mehrmals ansetzen, um die richtigen Worte zu finden. Mitten im Satz fiel im auf, dass er die Melodie vor sich hinsummte, mit der Erik ihn gelockt hatte. Es war ein Lied wie jedes andere, das ihm dabei seltsam vertraut vorkam. Woran erinnerte es ihn? Während er schrieb, summte er weiter vor sich hin, bis es ihm plötzlich einfiel: Das Schlaflied, das er aus Kindertagen kannte. Sein Vater hatte es ihm oft auf der Geige vorgespielt. Doch woher kannte Erik das Lied? Oder war es Zufall?

      Christoph ließ die Schreibfeder sinken und seufzte. Erik schien ihn bereits eine Zeitlang beobachtet zu haben und hatte auf diese Art möglicherweise von dem Lied erfahren. Vielleicht hatte er schon früher das Lied gedankenverloren vor sich hingesummt.

      Erneut seufzte Christoph und nahm die Feder wieder auf. Er füllte einen Bogen Papier und steckte den Brief in den bereit liegenden Umschlag. Nachdem er ihn verschlossen hatte, legte er ihn gut sichtbar auf der Kommode ab. Dann griff er sich seinen Mantel und verließ den Raum.

      Auf dem Weg nach unten fragte er einen der Mitarbeiter nach Madame Giry. Er fand sie im ersten Stock.

      »Mein lieber Junge, ich dachte, du seist längst zu Hause«, bemerkte sie, »Was kann ich für dich tun?«

      »Ehrlich gesagt habe ich eine Frage an Euch, Maman Giry.«

      »Nur zu, junger Mann.«

      Mit gedämpfter Stimme sagte er: »Es geht um das Phantom … den Operngeist.«

      Alarmiert legte Madame Giry einen Finger an die Lippen. »Bitte sprich nicht von ihm. Nicht hier.«

      Sie nach dem Warum zu fragen erübrigte sich, als sie ihn sofort darauf mit sich zu den Rängen zog.

      »Lass uns hier hinein gehen.« Sie öffnete die Tür zu Loge fünf, die sie ebenso geschwind hinter ihnen schloss. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass niemand sie vom Auditorium aus hätte beobachten können.

      »Ist das nicht seine Loge?«

      »Ja, aber momentan ist er nicht hier. Wir sind sicher. Niemand wird uns belauschen.« Sie bat ihn, sich in einen der Fauteuils zu setzen, während sie selbst es vorzog zu stehen.

      Christoph sah sich um in der Angst, nicht so allein zu sein wie Madame Giry glaubte. Schließlich fasste er sich ein Herz und fragte geradeheraus: »Ist es wahr, dass Ihr seine Logenschließerin seid?«

      Giry nickte stumm.

      »Und habt Ihr ihn je gesehen?«

      »Nein. Aber ich habe ihn mehrmals gehört, so deutlich wie ich dich höre.« Sie sprach nun ebenfalls mit gesenkter Stimme. »Manchmal hinterlässt er mir sogar eine Art Trinkgeld.«

      Christoph sah sie entgeistert an. »Weshalb denn das?«

      »Nun, es ist so. Jeden Abend lege ich ein Programmheft für ihn bereit, und wenn ich nach der Vorstellung zurückkomme, finde ich manchmal eine Schachtel meiner Lieblingspralinen oder eine kleine Summe Geld auf dem Tisch vor. Aber das ist nicht alles.«

      »Was noch?« Christoph erhob sich aus dem Sessel, erstaunt über das eben Gehörte.

      »Er ist ein mächtiger Mann, verstehst du? Die Oper ist sein Reich, in dem er tun kann, was immer ihm gefällt. Er kann durch Wände gehen, in verschlossene Räume eindringen; er sieht und hört alles. Seine Anweisungen zu missachten, ist sehr unklug.«

      »Aber wer ist er? Wenn schon kein Geist ...«

      »Du hast Recht. Doch still!« Beschwörend legte sie einen Finger an die Lippen. »Es ist gefährlich, ihn und seine Methoden zu hinterfragen. Lass mich dir eines sagen: Vor seinem Auftauchen war meine Meg eine Ballerina unter vielen. Aber dank ihm nahm unsere frühere Direktion sie wahr und gab ihrem Talent eine Chance. Nun ist sie auf bestem Weg, die nächste Sorelli zu werden.«

      Christoph sank zurück in den Fauteuil. Er war Zeuge geworden von Eriks Macht, zu manipulieren, seinem mysteriösen Charakter. Doch nie hätte er sich vorgestellt, dass dessen Einfluss auf die Opernleitung so weit reichte.

      »Ich muss Euch auch etwas erzählen.« Bebend ergriff er Madame Girys Hände und sah sie eindringlich an. »Ich habe ihn getroffen.«

      Giry schnappte nach Luft und bedeckte ihren Mund. »Oh, mein lieber Junge ...« Ihr Rock raschelte, als sie zu ihm niedersank. »Das darfst du niemandem erzählen, hörst du? Begib dich nicht in Gefahr!«

      Langsam nickte Christoph. Obwohl er nicht mit dieser Reaktion gerechnet hatte, bestätigte sie doch seinen Eindruck, dass Erik ein gefährlicher Mann war. Doch er würde ihm nicht entkommen, es sei denn, er verließ die Oper. Daran war nicht zu denken. Mehr noch, hegte er nicht die Absicht, sich von Erik