Die Dämonen. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754173145
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lastenden und sie schon halb zermalmenden Steine. Schatows Äußeres entsprach vollständig seinen Anschauungen: er war unbeholfen, blond, strublig, klein von Wuchs, breitschulterig, hatte dicke Lippen, sehr dichte, überhängende, hellblonde Augenbrauen, eine finstere Stirn und einen unfreundlichen, hartnäckig auf den Boden gerichteten Blick, als ob er sich über etwas schämte. Unter seinem Haare gab es einen Büschel, der sich absolut nicht glattkämmen ließ und immer in die Höhe stand. Er war ungefähr siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt. »Ich wundere mich nicht mehr darüber, daß seine Frau von ihm weggelaufen ist,« bemerkte Warwara Petrowna einmal, nachdem sie ihn aufmerksam betrachtet hatte. Er bemühte sich trotz seiner außerordentlichen Armut, sich sauber zu kleiden. An Warwara Petrowna wandte er sich auch jetzt nicht um Hilfe, sondern schlug sich durch mit dem, was ihm der Zufall an Verdienst zuführte; auch bei Kaufleuten war er tätig. Einmal war er Verkäufer in einem Laden; dann sollte er auf einem mit Waren beladenen Dampfschiffe als Gehilfe des Faktors wegfahren, wurde aber unmittelbar vor der Abfahrt krank. Man kann sich schwer eine Vorstellung davon machen, eine wie arge Armut er zu ertragen imstande war, ohne an sie überhaupt zu denken. Warwara Petrowna schickte ihm nach seiner Krankheit heimlich und anonym hundert Rubel. Er erfuhr indes das Geheimnis, überlegte, was er tun sollte, nahm das Geld an und ging zu Warwara Petrowna, um sich zu bedanken. Diese empfing ihn mit freundlicher Wärme; aber auch jetzt täuschte er schmählich ihre Erwartungen: er blieb nur fünf Minuten sitzen, während welcher Zeit er schwieg, stumpfsinnig zu Boden blickte und dumm lächelte; dann plötzlich stand er an der interessantesten Stelle des Gespräches auf, ohne zu Ende zu hören, was sie sagte, verbeugte sich schief und ungeschickt, schämte sich furchtbar, stieß an ihren Nähtisch an, warf dieses kostbare, mit eingelegter Arbeit verzierte Möbelstück um, so daß es zerbrach, und ging, halbtot vor Beschämung, weg. Liputin schalt ihn nachher heftig dafür aus, daß er diese hundert Rubel, als eine Gabe seiner ehemaligen Gutsherrin und Despotin, nicht mit Verachtung zurückgewiesen und nicht nur angenommen hatte, sondern sogar noch hingegangen war, um sich zu bedanken. Er lebte einsam am Rande der Stadt und sah es nicht gern, wenn jemand zu ihm kam, mochte es sogar einer von uns sein. Zu den abendlichen Zusammenkünften bei Stepan Trofimowitsch erschien er regelmäßig und las dort Zeitungen und Bücher.

      Zu diesen Abenden erschien auch noch ein junger Mensch, ein gewisser Wirginski, ein hiesiger Beamter, der einige Ähnlichkeit mit Schatow hatte, wiewohl er anscheinend in jeder Hinsicht das volle Gegenstück zu ihm war; aber auch er war »Ehemann«. Er war ein kümmerlicher, außerordentlich stiller junger Mensch, übrigens schon ungefähr dreißig Jahre alt, mit einer nicht unbeträchtlichen Bildung, die er sich größtenteils selbst angeeignet hatte. Er war arm, verheiratet, und unterhielt eine Tante und eine Schwester seiner Frau. Seine Frau, sowie auch die übrigen Damen der Familie, hatten die extremsten Ansichten; aber alles kam bei ihnen etwas grob heraus; gerade hier konnte man sagen, daß »die Idee auf die Straße geraten war«, wie sich Stepan Trofimowitsch einmal bei anderem Anlaß ausgedrückt hatte. Diese Damen hatten alles aus Büchern geschöpft, und auf den ersten Wink aus den fortschrittlichen Konventikeln der Residenz waren sie bereit, jede beliebige ältere Anschauung, die sie noch hatten, aus dem Fenster zu werfen, wenn man ihnen dazu riet. Madame Wirginskaja übte bei uns in der Stadt den Beruf einer Hebamme aus; in ihrer Mädchenzeit hatte sie lange in Petersburg gelebt. Wirginski selbst war von einer Reinheit des Herzens, wie man sie selten findet, und selten ist mir ein ehrlicheres Feuer der Seele vorgekommen. »Niemals, niemals werde ich diese leuchtenden Hoffnungen aufgeben,« sagte er zu mir mit strahlenden Augen. Über diese »leuchtenden Hoffnungen« sprach er immer ruhig, mit einem Wonnegefühl, beinah flüsternd, als ob es sich um ein Geheimnis handelte. Er war von ziemlich großer Statur, aber sehr dünn und in den Schultern schmal, und hatte recht spärliches Haar von rötlicher Färbung. Alle hochmütigen Spöttereien Stepan Trofimowitschs über einige seiner Ansichten nahm er mit Sanftmut hin und gab ihm manchmal mit großem Ernste Erwiderungen, durch die er ihn nicht selten verblüffte. Stepan Trofimowitsch verkehrte mit ihm freundlich, wie er sich denn uns allen gegenüber eines väterlichen Tones bediente.

      »Ihr seid alle ›unausgebrütet‹,« bemerkte er scherzend, indem er sich zu Wirginski wandte. »Darin sind sie alle Ihnen ähnlich, wiewohl ich an Ihnen, Wirginski, nicht jene Beschränktheit wahrgenommen habe, wie ich sie in Petersburg chez ces séminairistes angetroffen habe; aber trotzdem sind Sie noch ›unausgebrütet‹. Schatow möchte gern ausgebrütet werden; aber auch er hat das noch nicht erreicht.«

      »Und ich?« fragte Liputin.

      »Sie halten sich einfach auf der goldenen Mittelstraße und finden sich daher überall zurecht ... in Ihrer Weise.«

      Liputin fühlte sich gekränkt.

      Man erzählte von Wirginski, und leider sehr glaubhaft, daß seine Frau, nachdem sie noch nicht ein Jahr mit ihm verheiratet gewesen sei, ihm auf einmal erklärt habe, sie gebe ihm den Abschied und ziehe einen gewissen Lebjadkin vor. Dieser Lebjadkin, der von auswärts zugezogen war, erwies sich später als eine höchst verdächtige Persönlichkeit und war überhaupt nicht Stabskapitän[4] a.D., wie er sich titulierte. Er verstand weiter nichts, als sich den Schnurrbart zu drehen, zu trinken und das törichteste Zeug zu schwatzen, das man sich nur denken kann. Dieser Mensch war sogleich in der taktlosesten Weise zu ihnen gezogen, freute sich, an fremdem Tische essen zu können, schlief auch bei ihnen und begann schließlich, den Hausherrn von oben herab zu behandeln. Man behauptete, Wirginski habe, als ihm von seiner Frau der Abschied erteilt worden sei, zu ihr gesagt: »Liebe Frau, bisher habe ich dich nur geliebt; jetzt achte ich dich hoch«; aber schwerlich hat er einen solchen altrömischen Ausspruch getan; er soll im Gegenteil bitterlich geweint haben. Eines Tages, es war zwei Wochen nach der Verabschiedung, begaben sie sich alle, die ganze »Familie«, vor die Stadt in ein Wäldchen, um dort mit Bekannten Tee zu trinken. Wirginski befand sich in einer fieberhaft lustigen Stimmung und beteiligte sich am Tanze; aber auf einmal packte er, ohne daß ein Streit vorhergegangen wäre, den hünenhaften Lebjadkin, der gerade ein Cancansolo ausführte, mit beiden Händen bei den Haaren, zog ihn herunter und begann kreischend, schreiend und weinend ihn zu raufen. Der Hüne zeigte sich dermaßen feige, daß er sich nicht einmal verteidigte und die ganze Zeit über, während der andere ihn an den Haaren riß, fast vollständig schwieg; aber nach dieser Mißhandlung spielte er mit dem ganzen Zorne eines edlen Menschen den Beleidigten. Wirginski flehte die ganze Nacht über seine Frau auf den Knien an, ihm zu verzeihen; aber es wurde ihm keine Verzeihung gewährt, weil er sich doch nicht dazu verstehen wollte, zu Lebjadkin hinzugehen und ihn um Entschuldigung zu bitten; außerdem machte ihm seine Frau Beschränktheit der Anschauung und Dummheit zum Vorwurf, letztere deswegen, weil er bei diesem Gespräche mit ihr auf den Knien gelegen habe. Der Stabskapitän verschwand bald darauf und erschien in unserer Stadt erst in der allerletzten Zeit wieder, mit seiner Schwester und mit neuen Absichten; aber davon später. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, daß der arme »Ehemann« bei uns Erholung suchte und ein Bedürfnis nach unserer Gesellschaft fühlte. Über seine häuslichen Angelegenheiten sprach er sich übrigens bei uns nie aus. Nur einmal, als er mit mir von Stepan Trofimowitsch heimging, machte er einen entfernten Ansatz dazu, von seiner Lage zu sprechen; aber sogleich rief er auch, indem er mich bei der Hand ergriff, mit flammender Begeisterung:

      »Das hat nichts zu besagen; das ist nur eine Privatangelegenheit und kann für die gemeinsame Sache in keiner Weise ein Hemmnis bilden, in keiner Weise!«

      Auch Gäste stellten sich in unserem Vereine gelegentlich ein: so kamen der Jude Ljamschin und der Hauptmann Kartusow. Eine Zeitlang erschien ein wißbegieriger alter Herr; aber dieser starb. Liputin führte uns einen verbannten römischkatholischen Geistlichen namens Slonzewski zu, und einige Zeit gestatteten wir ihm aus Grundsatz den Besuch unserer Abende, dann aber nicht mehr.

       IX.

      Eine Zeitlang hieß es von uns in der Stadt, unser Verein sei eine Pflanzstätte der Freigeisterei, der Liederlichkeit und der Gottlosigkeit, und dieses Gerücht verstärkte sich immer mehr. Und doch fand bei uns nur das harmloseste, netteste, echt russische, lustige liberale Geschwätz statt. »Der höchste Liberalismus« und »der höchste Liberale«, das heißt der Liberale ohne jedes Ziel, sind nur in Rußland möglich. Stepan Trofimowitsch