Jenny warf Dana einen unsicheren Blick zu und erhob sich.
»Nimm bitte Platz.«
Carsten wirkte ungewohnt ernst. Normalerweise pflegte er seinen Studenten gegenüber einen sehr lockeren Umgangston. Wenn sie unter sich waren, hatte er noch nie den Professor herausgekehrt.
Jenny schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den Besucherstuhl, auf den er wies. Angespannt blieb sie auf der vorderen Kante sitzen.
»Jennifer, ich hatte nicht vor, euch zu belauschen«, begann er. »Aber ohne es zu wollen, habe ich einen Teil eures Gesprächs mitbekommen.«
Sie schluckte und senkte den Kopf. »Es ist nicht, wie du denkst«, erwiderte sie. Sie registrierte ihre schuldbewusste Körperhaltung und richtete sich auf.
»Ich habe euch doch oft genug erklärt, dass ihr die App nie für euch selbst verwenden dürft. Deine wissenschaftliche Integrität leidet darunter, wenn du dich emotional engagierst.«
»Ja, Carsten, das weiß ich. Es tut mir leid.« Ihre Schultern sackten schon wieder nach vorne. Sie nahm sie zurück und sah ihm fest in die Augen. »Es war dumm von mir, es wird nicht wieder vorkommen.«
»Davon gehe ich aus.« Er sah sie unter zusammengezogenen Brauen an. »Ich habe dich immer für eine sehr ehrgeizige Frau gehalten. Ich war überzeugt, dass dir deine Arbeit hier wichtiger ist als irgendwelche flüchtigen Liebschaften. Ich sage es ungern, aber ich bin sehr enttäuscht von dir. Von Dana hätte ich es eher erwartet, doch nicht von dir.«
»Aber …« Jenny schluckte. Nein, sie würde die Freundin nicht verraten. Natürlich nicht. »Ich habe ein neues Handy, und mein Bruder hat mir die App installiert«, sagte sie stattdessen. »Ich habe sie wirklich nur ein einziges Mal benutzt.«
»Einmal zu viel, und das weißt du genau.« Carsten erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. Er setzte sich vor Jenny auf die Schreibtischkante, sah von oben auf sie herab. »Wie heißt dein Avatar?«
»Was?« Jennys Kopf ruckte hoch. »Wieso …«
»Ich will deinen Datensatz aus dem System löschen. Es kann nicht angehen, dass diejenige, die die Daten untersucht, selbst als Testperson erfasst ist.«
Jenny schloss einen Moment lang die Augen. Er hatte natürlich recht. Die Validität der Daten war nicht gegeben, wenn Untersucher und Testobjekt nicht strikt getrennt gehalten wurden. Bei der großen Zahl von Datensätzen, mit der sie arbeiteten, war es faktisch egal, aber vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen musste sie ihm zustimmen.
»Feuerrotes Eichhörnchen«, murmelte sie.
»Wie bitte? Ich habe dich nicht verstanden.«
»Feuerrotes Eichhörnchen«, wiederholte sie etwas lauter und sah ihn unsicher an. Die Avatar-Logik war seine eigene Entwicklung, und sie hatte keine Ahnung, was er aus dieser Kombination von Farbe und Tier ablesen konnte. Aber er verzog keine Miene, sondern nickte nur.
»Versprich mir, dass du es nicht wieder tust.«
Jenny lächelte erleichtert. Die Standpauke schien vorüber zu sein. »Natürlich. Ich verspreche es.«
Er lächelte jetzt auch und wirkte mit einem Schlag um zehn Jahre jünger. Sein grau melierter Dreitagebart bildete einen interessanten Gegensatz zu seinem vollen dunklen Haar, das noch kein Grau aufwies. Er trug es nach hinten gekämmt, sodass die ebenfalls dunklen Augen besonders gut zur Geltung kamen, nur eine einzelne Strähne fiel ihm in die Stirn.
Ja, Dr. Hennrich war ein sehr gut aussehender Mann. Das einzige, was Jenny an ihm störte, war die Tatsache, dass er sich dessen stets bewusst zu sein schien. Keine seiner Gesten war zufällig, jede winzige Änderung in der Körperhaltung überlegt. Er vermochte eine Gesprächsrunde mit wenigen Worten in eine bestimmte Richtung zu lenken, und manchmal hatte sie das Gefühl, er konnte auf Kommando die Wirkung verändern, die er auf andere Menschen hatte.
Er stand auf, und sie zog unwillkürlich den Kopf ein. Carsten Hennrich war das, was man einen Sitzriesen nannte; er überragte Jenny mit ihren 1,58 Metern sogar im Sitzen um Haupteslänge.
Er strich sein Sakko glatt und kam um den Schreibtisch herum. Jenny erhob sich ebenfalls und stellte nicht zum ersten Mal fest, dass er gar nicht so groß war, sobald er neben ihr stand.
Er begleitete sie zur Tür, sie hob den Kopf, um sich zu verabschieden, und da war er wieder, dieser bohrende Blick. Als ob ihr Innerstes auf seinem ganz privaten Seziertisch läge. Sie schloss die Augen im irrationalen Versuch, sich dadurch vor ihm zu verstecken. Als sie sie wieder aufschlug, war der Blick verschwunden, und er lächelte sie herzlich an.
»Du machst großartige Arbeit, Jenny. Das wollte ich dir schon lange sagen.«
»Ähm, danke«, stammelte sie verlegen. Warum zum Kuckuck wurde sie jetzt rot?
»Deine Masterarbeit wird hervorragend. Es ist ein komplexes Thema, und du bereitest es sehr gewissenhaft auf. Ein großer Fortschritt in der Untersuchung von zwischenmenschlichen Beziehungen, fast schon ein wissenschaftlicher Durchbruch. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Jenny lächelte nun ebenfalls und entspannte sich. »Ich glaube auch, dass sie gut wird. Mit Hilfe der Daten aus der App kann ich einige Zusammenhänge neu bewerten. Aber es liegt noch viel Arbeit vor mir.«
»Daran zweifle ich nicht.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Hast du schon einmal daran gedacht, an der Universität zu bleiben? Ich habe einen wissenschaftlichen Mitarbeiter für unser Projekt beantragt, und ich würde deine Bewerbung unterstützen.«
Jennys Augen wurden groß. »An der Universität? Du meinst …« Sie stockte.
»Du musst jetzt nichts entscheiden«, beruhigte er sie. »Ich weiß noch gar nicht, ob ich die Stelle überhaupt bewilligt bekomme. Aber falls es klappt, würde ich mich sehr freuen, wenn du in meinem Team bleibst.«
»Mein Vertrag läuft noch bis Ende des Jahres«, gab Jenny zu bedenken. »Und früher wird meine Masterarbeit auch nicht fertig sein.«
»Das ist kein Problem.« Carsten griff nach der Türklinke. »Wenn du eine Vollzeitstelle am Institut annimmst, wird dein derzeitiger Vertrag vorzeitig aufgelöst.« Er öffnete die Tür. »Denk drüber nach.«
Jenny trat über die Schwelle und wandte sich noch einmal um. »Das werde ich tun.«
»Aber lass dir nicht zu viel Zeit«, rief er ihr hinterher.
Carsten schloss die Tür und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Jennys Fehltritt mit ihrem eigenen Avatar war eine willkommene Gelegenheit gewesen, ihr die Stelle in seiner Arbeitsgruppe schmackhaft zu machen. Er wollte sie wirklich gern in seinem Team haben, aber ihm war auch klar, dass sie ihre Zukunft nicht an seiner Seite sah. Es wurde Zeit, das endlich zu ändern.
Er verband sich mit dem Datenbankserver der App und loggte sich als Master-Admin ein. Jetzt hatte er vollen Zugriff auf ihren Datensatz und gab Feuerrotes Eichhörnchen in die Abfragemaske ein.
Er schmunzelte, während er die Buchstaben tippte. Das Tier verkörperte die Handlungsebene, und das Eichhörnchen gehörte wie alle Nagetiere in die Kategorie harmlos. Es beschrieb mäßig extrovertierte Menschen, die gerne planten, zielstrebig und fleißig waren. Die Farbe stand dagegen für die emotionale Seite. Jennys Feuerrot symbolisierte Wärme und Lebhaftigkeit. Seine Formel hatte Jenny ziemlich gut beschrieben.
Eine lange Liste von Zahlen und krausen Zeichen füllte den Bildschirm. Er scrollte durch Jennys Psychogramm nach unten und drückte auf den Button »Auswerten«. Nun wurde es übersichtlicher. Die vereinfachte Darstellung eines Kalenders erschien, zwei Tage waren grün unterlegt, hier gab es Aktivitäten der App. Er hob die Brauen. Jenny hatte gelogen, sie hatte die App offenbar nicht nur einmal benutzt.
Carsten klickte den ersten Tag an, es war der Freitag. Eine neue Seite erschien. Die Kartenansicht wurde eingeblendet,