Als er gefragt hatte, was sie beruflich machte, war es, als erwachte sie aus einem Traum.
»Ich arbeite an der Uni«, brachte sie noch hervor und sprang auf, bevor er nachfragen konnte. »Ich komme gleich wieder«, sagte sie, warf ihre Jacke über und flüchtete zur Toilette. Da saß sie dann auf der geschlossenen Brille in dem ungeheizten Raum und ihre Gedanken rasten im Kreis.
Was sollte sie tun? Wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, dass sie an der App arbeitete? Würde er ihr glauben, dass sie heute privat unterwegs war und nicht wie sonst, um irgendeinen Testlauf zu machen?
Abgesehen davon, dass sie mit ihm gar nicht darüber sprechen durfte, was würde er von ihr denken? Sie analysierte, kategorisierte und durchleuchtete Menschen, damit die App sie aufgrund der gewonnenen Daten zusammenbringen konnte. Und im Anschluss analysierte sie auch diese Dates, um die App immer weiter zu verbessern.
Würde er sich nicht – sie suchte in Gedanken nach dem Wort – benutzt vorkommen? Denn das war es doch, was sie tat: Sie benutzte Menschen, um die App zu füttern, damit die Menschen sie immer besser benutzen konnten. Nicht die besten Voraussetzungen für eine Beziehung.
Jetzt erst fiel ihr auf, dass die Straßenbahn in die falsche Richtung fuhr. Sie war in die erstbeste Bahn gesprungen, als sie die Haltestelle erreichte, ohne darauf zu achten, wohin sie sie brachte. Sie schaute aus dem Fenster. Erst erkannte sie nichts, dann sah sie das Schild eines großen Elektrofachmarkts. Sie war in Flingern.
Zwei Haltestellen weiter stieg sie aus und nahm die U-Bahn nach Hause. Erst da fiel ihr auf, dass ihre Mütze fehlte.
MONTAG
Privatdozent Dr. phil. Carsten Hennrich schloss die Tür zu seinen Räumlichkeiten auf. Wie immer war er der Erste am Morgen, aber der Rest seiner Truppe würde bald nach und nach eintrudeln.
Der lange Flur roch scharf nach dem Mittel, mit dem die Putzkolonne am Wochenende den grauen Filzbelag reinigte. Er durchquerte den Gang mit angehaltenem Atem und stieß das Fenster auf der anderen Seite auf.
Sein erster Weg führte ihn in den Serverraum, eine fensterlose Kammer, die mit einem Notstromaggregat und einem Klimagerät ausgestattet war. Hier befand sich das Herz seiner Arbeit, hier wurden vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche Daten gesammelt und ausgewertet, in Zahlen umgewandelt, in Formeln gepresst und wieder ausgegeben. Letzte Woche hatten sie die Millionenmarke geknackt. Eine Million Menschen hatte die App heruntergeladen, und die meisten von ihnen benutzten sie regelmäßig. Eine Million Menschen, die ihm ihre Daten zur Verfügung stellten, die ihm mitteilten, wo sie sich aufhielten und mit wem sie sich trafen. Eine unvorstellbare Zahl, und mehr als ausreichend, um statistisch relevante Ergebnisse zu erhalten.
Alle Lämpchen blinkten in beruhigendem Grün im Takt der Datenströme, nur an einem Rack im Raid-System leuchtete es gelb. Er runzelte die Stirn. Nigel würde sich darum kümmern, sein Datenbankadministrator, aber in Gedanken machte er sich eine Notiz. Raid-Platten mussten häufig ersetzt werden, was bei dieser Datenlast nicht verwunderlich war, aber hier schien der Slot einen Fehler zu haben, denn diese Platte war erst letzte Woche ausgetauscht worden.
Er ließ das Licht brennen und öffnete die Tür zu seinem Büro. Der Vorraum war noch leer. Er warf einen Blick auf die Uhr, es war halb acht, Frau Garbsen würde erst gegen neun kommen, und seine erste Vorlesung begann um zehn. Genügend Zeit, sich die ausgewählten Datensätze anzusehen, denen er seine besondere Aufmerksamkeit schenkte. An den Datensätzen selbst war nichts Besonderes, er hatte sie zufällig herausgepickt. Aber einige davon begleitete er nun schon seit Monaten, verfolgte ihren täglichen Weg zur Arbeit, wusste, mit wem sie sich trafen, wo sie einkauften und welche Lokale sie aufsuchten. Manchmal hatte er das Gefühl, sie besser zu kennen als die Menschen in seinem Bekanntenkreis. Er ließ sie erst gehen, wenn sie aufhörten, die App zu benutzen. Dann verschob er sie in Jennifers Datenbestände, wo sie die Geschichte der Aussteiger analysierte, um herauszufinden, ob ein grüner Handshake vorausgegangen war. Die Daten dieser erfolgreichen Matches halfen ihnen dabei, den Algorithmus der App stetig zu verbessern.
Dabei war das lebenslange Glück der Dater gar nicht das Ziel. Würden alle Handshakes zu glücklichen Beziehungen führen, ginge ihnen schließlich irgendwann das Datenmaterial aus. Aber noch kehrten die meisten Dater nach einigen Wochen oder Monaten zurück, und waren damit die beste Mundpropaganda.
»Jen, was ist los mit dir?«
Jenny fuhr zusammen und klickte mit der Maus irgendwo auf den Bildschirm. Sie war eigentlich mit dem Abtippen einer meterlangen Zahlenkolonne beschäftigt, aber ihre Gedanken schweiften ständig ab. »Nichts, alles in Ordnung.«
Dana stieß sich von ihrem Schreibtisch ab und rollte mit ihrem Stuhl zu Jenny herüber. »Erzähl mir nichts, irgendwas hast du doch.«
Jenny grinste schief. »Sieht man es mir so deutlich an?«, fragte sie.
»Zumindest ich kann sehen, dass am Wochenende etwas passiert ist.«
Jenny seufzte und sah aus dem Fenster.
»Nun sag schon.«
»Ich habe jemanden kennengelernt.«
»Nein!« Dana zog die langen Beine an und verknotete sie in ihrem Stuhl. »Wie konnte denn so was passieren?«
Jenny warf ihr einen wütenden Blick zu. »Was soll das wieder heißen?«
»Gar nichts, mein Häschen. Ich ziehe dich doch nur auf. Erzähl schon, wie heißt er, was macht er, wo habt ihr euch getroffen?«
Jenny senkte den Kopf. »Im Grunde weiß ich gar nichts über ihn«, sagte sie leise.
Dana riss die Augen auf. »Du hast die App verwendet? Jenny, du hast es wirklich getan?« Ein Lachanfall schüttelte ihre Freundin. »Ausgerechnet du, wo du doch immer sagst …«
»Ja ja, mach dich nur lustig«, gab Jenny zurück. »Mein Bruder hat mir ein neues Handy geschenkt und hat die App darauf installiert, ohne mich zu fragen. Und dann …«
»Dann warst du neugierig und hast sie ausprobiert!« Dana wieherte vor Vergnügen. »Die Sehnsucht nach Liebe hat also sogar dich erwischt. Ob das am Frühling liegt?«
»Ja, wahrscheinlich.« Jenny musste jetzt selbst lachen. »Es war im Volksgarten, und er heißt Jakob.«
»Wunderbar!« Danas graue Augen strahlten. Offenbar war Jennys Liebesgeschichte für sie fast so gut wie eine eigene.
Jenny schüttelte den Kopf. »Gar nichts ist wunderbar.«
»Aber wieso …«
»Als ich gemerkt habe, wie gut wir uns verstehen, bin ich abgehauen.«
»Jenny!« Dana sah sie mit offenem Mund an. »Aber wieso das denn?«
»Wir dürfen die App doch nicht privat benutzen!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Als er fragte, was ich beruflich mache, wusste ich nicht, was ich sagen sollte.«
»Und jetzt bereust du es?« Danas Miene war voller Mitgefühl.
»Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Meine Arbeit hier ist …«
»Die Arbeit kann dir doch nicht wichtiger sein als deine Gefühle!«
»Doch, natürlich ist sie das.« In Jenny regte sich Trotz. »Ich stecke mitten in meiner Masterarbeit, ich habe hier am Institut genug zu tun, ich habe doch gar keine Zeit für so etwas.«
»Keine Zeit für die Liebe? Jenny, das ist nicht dein Ernst.«
Jenny schwieg. Die gleichen Fragen waren ihr die ganze Nacht durch den Kopf gegangen und hatten ihr den Schlaf geraubt.
»Du kennst doch seinen Avatar, oder? Dann kannst du ihn ja wiederfinden!«
»Ja, natürlich kann ich das. Es ist nur die Frage, ob ich das wirklich will.« Jenny verzog das Gesicht.
»Wenn ich mir dich so ansehe, glaube ich …«
»Jennifer,