Betty war wieder in ihrem Zimmer verschwunden, und er folgte ihr. Die Tür zum Büro von Professor Baumgarten stand offen, aber sein Schreibtisch war leer.
»Ich muss diesen Brief hier abtippen«, begann Betty und deutete auf den Bildschirm. »Aber jedes Mal, wenn ich speichern will, kommt eine Fehlermeldung.«
Jakob runzelte die Stirn. Auf dem Bildschirm war das Office-Programm zu sehen, und dessen Benutzung sollte für die routinierte Institutssekretärin eigentlich kein Problem darstellen. Die Briefvorlage sah auch genau so aus wie die, die er irgendwann für sie erstellt hatte. Daran schien es nicht zu liegen. Zur Sicherheit drückte er Strg-S auf der Tastatur, und prompt poppte die Fehlermeldung auf.
»Schau mal, hier steht es doch«, sagte er und wies auf den Bildschirm. »Der Pfad zum Speichern kann nicht gefunden werden.«
Er rief die Kommandozeile auf und tippte rasch einige Befehle ein.
»Wieso speicherst du das denn auf die externe Platte?«
»Tu ich das?« Betty stand mit wogendem Busen hinter ihm und sah ihm über die Schulter.
»Ja, schau, hier ist die zweite Festplatte eingestellt. Und die ist offenbar nicht angeschlossen.«
»Natürlich nicht, die hat ER mitgenommen.« Sie sprach das ›Er‹ aus, als ob es in Großbuchstaben geschrieben wäre, und Jakob unterdrückte ein Schmunzeln. Bettys Verehrung für den Professor war ein offenes Geheimnis.
»Warum speicherst du überhaupt extern und nicht auf die Datenplatte im Netzwerk?«, fragte er und korrigierte den Standardpfad mit ein paar Mausklicks.
»Ich war das nicht«, protestierte Betty und machte Kulleraugen. »Ich habe nichts verstellt, ich schwöre es.«
»Nein, natürlich nicht.« Jakobs Mundwinkel zuckte. »Ich habe es auf dein normales Verzeichnis zurückgestellt. Jetzt müsste es wieder gehen.«
Er kehrte zu dem Fenster mit dem Brief zurück und drückte erneut Strg-S. Ein leiser Ton belohnte jetzt seinen Versuch. »Es hat geklappt.«
»Danke, Jakob. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich täte.«
Jakob grinste schief und tätschelte ihr die runde Schulter. »Keine Ursache. Das ist schließlich mein Job.«
Er verließ Bettys Büro, und der Minutenzeiger der großen Uhr über der Tür sprang just in dem Augenblick auf die volle Stunde, als er die Schwelle überschritt. Die Kernzeit war zu Ende!
Er beschleunigte seine Schritte und kehrte in sein Büro zurück. Büro war vielleicht etwas übertrieben, es handelte sich um kaum mehr als eine schmale Nische im Gang, die immerhin an ihrem Ende ein Fenster besaß. Zum Flur hin war die Nische offen, deshalb hatte er kurzerhand ein hohes Regal davor gestellt, um das er sich nun herumwinden musste, um an seinem Schreibtisch zu gelangen.
Er fuhr den Rechner herunter, zog die Jacke an und griff nach seinem Rucksack mit der Kamera. Nach einem letzten Kontrollblick auf den Schreibtisch fädelte er sich und den Rucksack aus der Nische und verließ das Institut, ohne nochmals aufgehalten zu werden.
Als Jakob den Schlüsselbund aus der Tasche zog, um sein Fahrrad aufzuschließen, fiel ihm Jennys Mütze entgegen. Einen Moment lang stand er da und starrte sie an, dann schloss er die Augen und vergrub seine Nase in der grünen Wolle. Sie roch noch immer nach Jenny, nach ihrem Haar, und wieder sah er ihre lachenden Augen vor sich.
Er schob die Mütze zurück in die Jackentasche und holte das Handy heraus. Die App startete quälend langsam, das Logo drehte sich träge, und zögernd baute sich die Kartenansicht auf. Er runzelte die Stirn, der Empfang hier zwischen den Gebäuden war bescheiden, und offenbar befand er sich gerade außerhalb der WLAN-Reichweite seines Instituts. Mit dem Handy in der Hand schwang er sich aufs Fahrrad und fuhr los.
Zu der Stelle, wo er gestern den grünen Punkt hatte verschwinden sehen, war es nicht weit, kaum mehr als einen Kilometer Luftlinie, aber die krummen Pfade im botanischen Garten und der Umweg, zu dem ihn der Unisee zwang, verlängerten die Strecke, bis er über die Autobahnüberführung hinweg den Südpark erreichte. Er hielt an und konsultierte das Handy. Im näheren Umkreis waren einige Punkte zu sehen, aber keiner von ihnen war grün. Gemächlich radelte er um den Deichsee herum, die Augen immer wieder auf das Display gerichtet, bis er ums Haar einen Hund überfahren hätte. So ging das nicht.
Er steckte das Telefon in die Brusttasche seiner Jacke und legte die Strecke bis zum Bootshaus zügig zurück. Dort stellte er das Rad ab und hielt erneut nach grünen Punkten Ausschau. Am östlichen Bildrand war einer aufgetaucht, Silberweißer Wüstenfuchs hieß die Dame, und er drückte sie weg.
Es war kurz vor halb fünf. Wie lange mochte Jenny arbeiten? Die einfachen Angestellten hatten normale Bürozeiten, während die Lehrkräfte und das wissenschaftliche Personal oft bis spät am Abend blieben. Da er nicht wusste, was sie machte, konnte er nur raten. Was wusste er überhaupt von ihr?
Erschreckend wenig, gestand er sich ein. Sie arbeitete an der Uni und ging gern im Volksgarten spazieren. Von der vagen Hoffnung geleitet, dass sie nach Arbeitsschluss hier auftauchte, hatte er sich beeilt, vor ihr hier zu sein. Nur für den Fall, dass sie bei dem schönen Wetter durch den Park nach Hause ging. Schön war das Wetter zwar, aber vielleicht war es einfach noch zu früh.
Er schob sein Fahrrad weiter, umrundete langsam den Volksgartensee, behielt ständig das Handy im Auge, um das eventuelle Auftauchen eines grünen Punktes keinesfalls zu verpassen. Nichts.
Um Viertel nach Fünf gestand er sich ein, dass sein Plan nicht funktioniert hatte. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Inzwischen war es fast dunkel, und die Chance, dass Jenny noch im Park auftauchte, war gleich null. Trotzdem fiel es ihm schwer, die Idee aufzugeben. Langsam schob er das Fahrrad zum Ausgang. Die Straßenbeleuchtung hatte sich inzwischen eingeschaltet, und die Lichter der vorbeifahrenden Autos blendeten ihn. Resigniert bestieg er sein Fahrrad und fuhr nach Hause. Ein scharfer Wind wehte und brachte seine Augen zum Tränen.
Jennys Gesicht war eine Maske freundlichen Interesses. Sie ignorierte das Quietschen des Messers, mit dem der Mann seine Spaghetti schnitt, und versuchte, sein Schmatzen zu überhören. Der Appetit war ihr allerdings vergangen, sie pickte nur an einzelnen Blättchen in ihrem Salat herum.
»Die Idioten haben ernsthaft geglaubt, sie können das mit mir machen«, sagte er mit vollem Mund. Seine Stimme klang, als wäre er im Stimmbruch stecken geblieben. Eine Nudel hing an seinem markanten Kinn, er wischte sie ab, und Jenny beobachtete fasziniert die kleine weiße Made, die jetzt auf seinem Handrücken klebte.
»Was hast du dann gemacht?«, fragte sie.
»Das kannst du dir wohl denken«, erwiderte er und zwinkerte ihr vertraulich zu.
»Allerdings«, behauptete Jenny. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Irgendeine verworrene Geschichte von seiner Arbeitsstelle, wo er als Security-Beauftragter einen verantwortungsvollen Job ausübte. Wenn man ihm Glauben schenken durfte, schien in dem Veranstaltungslokal ohne ihn nicht viel zu laufen.
»Und? Was machst du so, Rosalie?«, wollte er jetzt wissen.
Auf diese Frage war sie vorbereitet. »Ich arbeite in einer Apotheke«, antwortete sie prompt.
Ihr Gegenüber hob die Brauen. »Bist du Apothekerin oder so was?«
Jenny lachte bitter auf. »Nein, schön wär’s.« Sie seufzte theatralisch »Ich bin nur eine bessere Verkäuferin. Die Apothekerin ist meine Chefin.«
»Ach so.« Der Mann – Ralf – schaufelte einen weiteren Löffel voll zerschnittener Spaghetti in den Mund. Eine Nudel war seinem Messer entkommen, und geräuschvoll sog er sie zwischen den Lippen ein. Jenny sah angewidert zur Seite und versuchte, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten.
Offensichtlich hatte sie