In der Praxis gibt eine gewissenhafte und vorurteilsfreie Anamnese die wichtigsten Eckpunkte der weiteren Diagnostik vor. Wichtig ist, zu verstehen, dass ein Patient mit den Symptomen einer Migräne mit Hirnstammaura sich in einer absoluten Ausnahmesituation befindet – körperlich und mental. Äußerungen von Angst und Panik sind in diesen Fällen keine Symptome einer psychischen Erkrankung oder Überempfindlichkeit, sie sind eine normale Reaktion eines „gesunden“ Bewusstseins auf eine als lebensbedrohlich und existenziell vernichtend empfundene Situation.
Generell ist festzustellen, dass Migräne-Auren die gesamte Palette neurologischer „Spezialeffekte“ abspielen können: Dazu gehören Halluzinationen, abnorme Bewusstseinszustände, Affektänderungen und -störungen, Sinnestrübung und gestörte Wahrnehmung, aber auch motorische Störungen bis hin zu kompletter Lähmung im Rahmen eines Locked-in-Syndroms als Komplikation (siehe Kapitel 5.3).
Wer solche Symptome gelassen und ohne Angst hinnimmt, vor allem, wenn sie erstmals auftreten, kann unter psychologischen Gesichtspunkten durchaus nicht als „der Gesunde“ gelten. Eine stoisch gelassene Haltung in diesen Situationen kann selbst für „alte Migräne-Hasen“ maximal Behandlungsziel sein. Neuerlich Betroffene und ihre Gefühlslagen in dieser Ausnahmesituation sollten immer als solche akzeptiert und ernst genommen, nicht aber psychopathologisiert werden.
Fokusumlenkung
Ganz grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass psychische oder psychosomatische Symptome eher „von außen“ beeinflussbar sind. Vor allem bei „reinen“ Panikattacken kann eine Fokusumlenkung durch ein Gespräch oder anderweitiger Ablenkung gut gelingen. Eine Migräneaura mit Hirnstammbeteiligung ist dagegen fast vollständig immun. Patienten haben keinerlei Möglichkeit, hier bewusst gegenzusteuern oder sich in irgendeiner Form „zusammenzureißen“. Im Gegenteil sorgen solche Bemühungen, die mit hoher Anstrengung und Muskelanspannung verbunden sind, eher noch dafür, dass die Aura-Symptome heftiger werden und/oder länger andauern, da die Durchblutung des Gehirns durch die Muskelanspannung noch weiter gestört wird.
Es ist möglich, dass während oder nach eines Migräneanfalls mit Hirnstammaura die Patienten verstummen oder komplett dissoziieren („abspalten“). Dies ist eine Folge der extremen Belastung (vor allem, wenn die Migräneaura in dieser Form erstmals auftritt oder noch undiagnostiziert ist).
Ein extremer Migräneanfall kann traumatisierend wirken - mit allen hierfür bekannten akuten und/oder langfristigen Symptomen. Auch dies ist kein Zeichen von Charakterschwäche, „Anstellerei“ oder allgemeiner Hypersensitivität. Eine aus einem Trauma entstandene psychische Störung, wie beispielsweise die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), ist dann als Koerkrankung oder Folgeerkrankung der Migräne mit Hirnstammaura einzustufen (siehe Kapitel 6.5) - nicht als Ursache für die Migräne.
Bei schweren, hochfrequenten Migräneverläufen kommen allerdings signifikant öfter auch Traumafolgestörungen in der Patientengeschichte vor (14-25% der Betroffenen). Dennoch können weder Traumatisierungen noch Traumafolgestörungen als alleinige und zentrale Migräne-Ursache gesehen werden. Über einen möglichen kausalen Zusammenhang ist bisher wenig bekannt. Die Korrelation, das heißt die (evtl. zufällige) Häufung der beiden Erkrankungen gilt jedoch als belegt (vgl. Rech 2020).
3.3.3 Andere Differenzialdiagnosen
Andere Ursachen für Beschwerden, die sich wie eine Migräne mit Hirnstammaura äußern und ausgeschlossen werden sollten sind:
Morbus Menière (ICD-10-GM 2020: H81.0), vestibuläre Erkrankungen (ICD-10-GM 2020: H81.-), vorübergehende ischämische Attacken (TIA) (ICD-10-GM 2020: G45), andere Durchblutungsstörungen des Gehirns (Aneurysma, Dissektionen, Hirnvenenthrombose etc.) und Meningitis (je nach Ursache unterschiedliche ICD-10-Kodierungen).
In der Regel treten Symptome von ischämischen Attacken (TIA) genauso wie von Schlaganfällen und anderen Durchblutungsstörungen des Gehirns, eher plötzlich und unvermittelt innerhalb von Sekunden auf. Migräne-Auren entstehen in den allermeisten Fällen hingegen langsamer, „wandern“ durch den Körper und folgen einer eigenen „Dramaturgie“ bis sie wieder vollständig abklingen.
Auch Tumore verursachen mitunter ähnliche Beschwerden, wie eine Migräne mit Hirnstammaura. Hier jedoch über Wochen und Monate, ggf. schubweise langsam schlimmer werdend.
Untersuchungen der Hörorgane (v. a. Innenohr) können Aufschluss darüber geben, ob ein Morbus Menière oder andere vestibuläre Erkrankungen vorliegen.
Mittels Computertomografie (CT) bzw. CT-Angiografie, Magnetresonanztomografie (MRT) bzw. -angiografie (MRA), kann die Durchblutung und der Zustand des Gehirns überprüft werden, so dass die konsultierten Ärzte damit eine schnelle und treffsichere Aussage über mögliche Differentialdiagnosen tätigen können.
Vor allem eine Abgrenzung zur Epilepsie kann manchmal schwerfallen. Auch das Phänomen der Migrälepsie – eine Art Mischform von Migräne und Epilepsie – kann auftreten. (Mehr dazu im Kapitel 6.2 - Epilepsie als Komorbidität).
Die Abgrenzung zu transitorisch ischämischen Attacken (TIA) wird erleichtert durch die Tatsache, dass Taubheits- und Kribbelgefühle der Zunge, wie sie als sensorische Migräneaura häufig beschrieben werden, praktisch nicht vorkommen, wenn zerebrovaskuläre Störungen, also Störungen der Hirndurchblutung, vorliegen.
Liegen solch eindeutige Symptome nicht vor, ist es wesentlich schwieriger, eine Hirnstammaura von einer transitorisch ischämischen Attacke zu unterscheiden, da auch hier Symptome wie Tinnitus, Schwindel, Sprach- und Sprechstörungen und Doppelbilder vorkommen. Bei der Differenzierung hilft die Tatsache, dass bei Patienten mit basilärer Migräne kaum oder keine Gefäßrisikofaktoren auszumachen sind, sie zwischen 30 und 50 Jahren alt sind und der typische Druck-Kopfschmerz nach den neurologischen Symptomen länger anhält (vgl. Göbel 2012).
Dauern die neurologischen Symptome zusammen mit dem Kopfschmerz länger als eine Woche an, sollte in jedem Fall überprüft werden, ob nicht doch ein migranöser Infarkt vorliegt (mehr dazu im Kapitel 5 / Komplikationen). Es ist dann unumgänglich bildgebende Verfahren, wie MRT und CT hinzuzuziehen, und sich einen Überblick über den Zustand der Gefäße und des Herz-Kreislauf-Systems zu verschaffen.
4 Ursachen
Warum bekommt man Migräne mit Hirnstammaura?
Eine genaue Ätiologie, das heißt, ein zugrunde liegender ursächlicher Zusammenhang der Migräne mit Hirnstammaura ist bis heute nicht bekannt. Wie bei anderen Migränearten auch, spielen nach vorherrschender Lehrmeinung, neben genetischen Vorbedingungen auch individuelle Trigger und Umweltfaktoren eine Rolle.
Laut US-amerikanischem Verzeichnis seltener Erkrankungen vermuten einige Wissenschaftler, dass Nervenanomalien und/oder eine veränderte Durchblutung bestimmter Teile des Gehirns (insbesondere des Hirnstamms und der Okzipitallappen) eine Rolle bei der Entwicklung der Migräne mit Hirnstammaura spielen könnten. Eine genetische Ursache wird ebenfalls von vielen Wissenschaftlern angenommen. Für die Migräne allgemein kennt man heute über 40 Gene, die für ein erhöhtes Migränerisiko verantwortlich sind. Einige Forschungsberichte legen nahe, dass das bei der familiären hemiplegischen Migräne beteiligte Gen auch an der Migräne mit Hirnstammaura (ohne Hemiplegie) beteiligt sein könnte.
In Forschungsarbeiten aus den Jahren 2005 und 2009 wird beschrieben, dass die Anfälligkeit für Migräne mit Hirnstammaura in seltenen Fällen durch eine Mutation des ATP1A2-Gens oder des CACNA1A-Gens begünstigt wird. In diesen Fällen kann die Erkrankung bei mehr als einem Familienmitglied auftreten (vgl. Ambrosini 2005 / Robbins 2009). Eine eindeutige genetische Verknüpfung oder genetische Konstellation konnte bisher jedoch nicht abschließend belegt werden.
Da gemäß ICHD-3 die Migräne mit Hirnstammaura eine Unterart der Migräne mit Aura ist, gehen viele Fachleute davon aus, dass sie das Ergebnis einer kortikalen Ausbreitungsdepression ("spreading depression") ist.