Migräne mit Hirnstammaura - Leben mit einer seltenen, schweren Form der Migräne - auch bekannt als "Basilarismigräne". Tanja Götten. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Götten
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783754919989
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relativ eindeutig erscheinen, werden unter anderem aus den oben geschilderten Gründen die Symptome in der Praxis häufig nicht als solche erkannt. Zudem gibt es eine „saubere“ Migräne mit Hirnstammaura eher selten. Die meisten Betroffenen erleben eine individuelle Symptommixtur, die häufig nur dem spezialisierten Facharzt „etwas sagen“ und entsprechend entschlüsselt werden kann.

      Hinzu kommt, dass die Migräne mit Hirnstammaura immer noch wenig bekannt ist. Auch in der allgemeinen Ausbildung der Fachärzte für Neurologie kommt sie meist nur im Nebensatz vor – wenn überhaupt. Die wenigsten Behandelnden in „normalen“ Hausarztpraxen oder Notfallambulanzen, in denen Betroffene sich aufgrund ihrer Symptome vorstellen, haben (bewusst) schon mal einen Patienten mit dieser Art der Migräne gesehen oder gar erfolgreich behandelt.

      Leider zeigen die vielen Patientenberichte, dass auch die eindeutig neurologischen Symptome nicht immer gewissenhaft abgeklärt werden, sondern ohne weitere Diagnostik als psychosomatisches Krankheitsgeschehen eingestuft werden. Das ist weder fachmedizinisch korrekt, noch hilfreich für die betroffenen Menschen, wie man sich leicht vorstellen kann. Neurologische Symptome und Ausfallerscheinungen sollten immer gründlich und zeitnah abgeklärt werden.

      Auch bei bereits diagnostizierten Patienten sollten Anfälle, die ungewöhnlich schwer oder anders verlaufen als üblich, mit einem fachkundigen Arzt besprochen werden, um Komplikationen wie Schlaganfall und Co. auszuschließen. Im Zweifel rechtfertigt ein solcher Anfall auch das Kontaktieren der Notfallambulanzen oder einen Anruf beim Rettungsdienst.

      Wenn Betroffene das Gefühl haben, mit ihren Beschwerden nicht ernst genommen zu werden, sollten sie sich nicht scheuen, ihre Behandler zu wechseln, oder eine Zweitmeinung (am besten von einem spezialisierten Neurologen) einzuholen. Die Erfahrung der diagnostizierten Betroffenen zeigt, dass Beharrlichkeit und Geduld sich in diesem Falle auszahlen und erst damit wichtige Schritte in Richtung einer erfolgreichen Therapie gemacht sind.

      Tipp:

      Wenn Sie den begründeten (!) Verdacht haben, dass Sie an einer Migräne mit Hirnstammaura leiden könnten, beziehen Sie sich möglichst nicht auf „Dr. Google“ oder ein Buch (wie dieses hier). Viele Ärzte reagieren abweisend, wenn sie hören, woher Ihre Ideen stammen (und das nicht zu Unrecht). Cleverer ist es in diesem Fall, einen Verwandten oder Bekannten mit ähnlichen Symptomen zu erwähnen, oder den Hinweis eines (notfalls imaginären) Medizinerkollegen – evtl. auch eines Physiotherapeuten - „weiterzugeben“. Das ist natürlich nicht die feine Art, aber der Zweck heiligt in diesem Falle die Mittel. Wenn Sie sachlich bleiben und nicht „besserwisserisch“ auftreten oder gar die Diagnose vorwegnehmen, sind die meisten Ärzte erfahrungsgemäß offen und durchaus interessiert daran, genauer hinzuschauen. Sie werden die Diagnostik entsprechend gewissenhaft angehen.

      An alle mitlesenden Ärzte: Bitte sehen Sie Ihren Patienten diese Art „Notwehr-Maßnahme“ gegebenenfalls nach. Zum Ausgleich gibt es im Serviceteil dieses Buches unter dem Punkt Praxisleitfaden für den Medizinbetrieb auch ein paar ähnliche “Tricks“ im Umgang mit „speziellen“ Patienten für Sie.

      3 Diagnose

      3.1 Diagnosekriterien

      Bei der Umstellung der Klassifizierungssysteme (von ICD 10 auf ICD 11) wurden die Diagnosekriterien für die Migräne mit Hirnstammaura leicht angepasst. Eine Unterscheidung von der hemiplegischen oder vestibulären Migräne bzw. vestibulärer Schwindelsymptomatik, die zusammen mit der Migräne auftritt, ist so eindeutiger möglich.

      Eine Migräne mit Hirnstammaura wird laut ICHD-3 diagnostiziert, wenn Attacken vorliegen, die

      A. die Kriterien für eine klassische Migräne mit Aura (s.u.)

      UND

      B. zusätzlich folgende Kriterien erfüllen:

      1. Aura, bei denen mindestens 2 der folgenden vollständig reversiblen (= zurückgehenden) Hirnstammsymptome vorliegen:

      - Sprechstörungen (Dysarthrie)

      - Schwindel

      - Tinnitus

      - Hörminderung

      - Doppelbilder (Diplopie)

      - Störung der Bewegungskoordination (Ataxie), die nicht auf ein sensibles Defizit zurückzuführen ist

      - Bewusstseinsstörung (GCS ≤13 s.u.)

      UND

      2. Keine motorischen oder retinalen Symptome vorliegen.

      Bei der Diagnosestellung sind einige Punkte zu beachten:

      1. Es sollte die Abgrenzung einer Dysarthrie von einer Aphasie erfolgen. Dysarthrien sind Beeinträchtigungen des Sprechens aufgrund einer Störung im motorischen System („Sprechstörung“). Aphasien sind multimodale Störungen des Sprachsystems (z.B. Grammatik, Wortwahl). Aphasie ist also eine Störung des Gesamtsystems 'Sprache' („Sprachstörung“) [vgl. Dogil/Mayer 2014].

      2. Schwindel beinhaltet nicht „Benommenheit“ und muss von dieser abgegrenzt werden.

      3. Eine Hörminderung liegt nicht vor, wenn Patienten von einem „Völlegefühl“ im Ohr berichten.

      4. Doppelbilder (=Diplopie) umfasst nicht ein „Verschwommensehen“ (oder schließt dieses aus).

      5. Eine Abschätzung der Bewusstseinsstörung nach der Glasgow Coma Scale (GCS) kann bei Erstbefundung (z. B. bei stationärer Aufnahme) erfolgen. Alternativ können eindeutig vom Patienten geschilderte Defizite eine GCS-Einstufung möglich machen.

      Glasgow Coma Scale (GCS): Das GCS ist ein Bewertungsschema für Bewusstseins- und Hirnfunktionsstörungen nach einem Schädel-Hirn-Trauma. Anhand von 3 Kriterien (Öffnen der Augen, beste verbale Reaktion, beste motorische Reaktion), für die jeweils Punkte vergeben werden, verschaffen sich Mediziner einen Eindruck von der Bewusstseinslage des Patienten.

      Diagnose der Migräne mit Aura

      Patienten mit Hirnstammaura weisen fast immer zusätzliche typische Aurasymptome auf.

      Die Migräneaura ist ein neurologischer Symptomkomplex, der in der Regel unmittelbar vor einem migränetypischen Kopfschmerz auftritt. Sie kann aber auch nach Beginn der Kopfschmerzphase einsetzen oder sich bis in die Kopfschmerzphase hineinziehen.

      Die neueste Klassifizierung der IHS (ICHD-3) beschreibt die Migräne mit Aura als "wiederkehrende, für Minuten anhaltende Attacke mit einseitigen, komplett reversiblen visuellen, sensorischen oder sonstigen Symptomen des Zentralnervensystems, die sich in der Regel allmählich entwickeln und denen in der Regel Kopfschmerzen und damit verbundene Migränesymptome folgen." (IHS / ICHD-3)

      Frühere Bezeichnungen dieser Migräneart waren unter anderem „migraine accompagnée“ oder „komplizierte Migräne“.

      typische Aurasymptome

      Der häufigste Auratyp ist die visuelle Aura. Diese typischen Symptome treten bei mehr als 90% der Patienten zumindest bei einigen Attacken auf. Oftmals beschreiben Patienten diese Symptome als einen sich langsam ausbreitenden, oder nach rechts oder links bewegenden Zickzack-Kreis bzw. Randbereich um einen anvisierten Punkt. Dieser Fixationspunkt wird von Betroffenen häufig als "blinder Fleck" bezeichnet. Mediziner nennen diesen Fleck relatives Skotom (auch teilweiser „Gesichtsfeldausfall“). Fällt das Gesichtsfeld komplett aus, spricht man vom absoluten Skotom (= Erblindung). Manchmal tritt ein Skotom auch plötzlich und ohne andere positive visuelle Phänomene auf. Dann variiert nur die Größe. Bei Kindern und Jugendlichen treten diese Symptome untypischerweise oftmals beidseitig (bilateral) auf.

      Weitere Aurasymptome sind Sensibilitätsstörungen, wie nadelstichartige Empfindungsstörungen (Parästhesien), die sich langsam vom Ursprungsort ausbreiten. Diese Missempfindungen wandern häufig durch größere oder kleinere Areale einer Körperhälfte. Auch Gesicht und/oder Zunge oder Mundwinkel können betroffen sein.

      seltenere Aurasymptome

      Seltenere Aurasymptome sind Sprachstörungen.