Migräne mit Hirnstammaura - Leben mit einer seltenen, schweren Form der Migräne - auch bekannt als "Basilarismigräne". Tanja Götten. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Götten
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783754919989
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Hirnstammsymptom der vestibulären Migräne (vgl. Neurologienetz.de).

      Die Ähnlichkeit der Symptome zur Migräne mit Hirnstammaura liegt auf der Hand.

      Laut Barany Society (International Society for Neuro-otology) gelten aktuell als Diagnosekriterien für die vestibuläre Migräne:

      A) Mindestens 5 Attacken mit vestibulären Symptomen von milder bis schwerer Intensität mit einer Dauer zwischen 5 Minuten und 72 Stunden

      B) Positive Anamnese für Migräne mit oder ohne Aura

      C) Ein oder mehr Migränesymptome bei 50% der Schwindelepisoden

      • Kopfschmerz mit mindestens 2 Charakteristika:

      • einseitiges Auftreten

      • pulsierender Charakter

      • mittlere bis schwere Schmerzintensität

      • Licht- und/oder Geräuschempfindlichkeit (Photophobie oder Phonophobie)

      • visuelle Aura

      D) Symptomatik nicht besser durch andere Erkrankungen erklärbar. (Barany Society 2012)

      Die Bárány Society erarbeitet (wie die International Headache Society (IHS)) seit 2009 Kriterien zur Klassifikation von vestibulären Symptomen und Erkrankungen. Benannt ist sie nach dem Hals-Nasen-Ohren-Arzt Robert Bárány, der für seine Untersuchungen über die Funktion des Vestibularapparates 1914 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt.

      In dem in Deutschland bis Ende 2021 geltenden Klassifikationskatalog der Krankheiten (ICD-10-GM 2020) wird die vestibuläre Migräne (ebenso wie die Basilarismigräne) noch als Unterform der Migräne mit Aura unter der Kodierung G43.1 geführt.

      Die neueste Klassifikation der Kopfschmerzen der IHS (ICDH-3) erfasst die vestibuläre Migräne jedoch nicht mehr als Migräneaura, sondern erläutert im Anhang der Klassifikation das Auftreten und die Schwindel-Symptomatik als Episodische Störung, die potenziell mit einer Migräne einhergeht.

      Laut IHS/ ICDH-3 können Episoden einer vestibulären Migräne nicht als Migräneauren betrachtet werden, weil man beobachtet hat, dass nur wenige Patienten mit einer vestibulären Migräne (Kodierung A1.6.6) die Schwindel-Symptome innerhalb des zeitlichen Rahmens von 5 bis 60 Minuten, wie es bei der Migräne mit Aura für ein Aurasymptom definiert ist, erleben. Bei noch weniger Patienten tritt der Schwindel unmittelbar vor Einsetzen der Kopfschmerzen auf (wie für eine „typische Aura mit Kopfschmerz“ üblich).

      Von mehr als 60 Prozent der Patienten mit einer Migräne mit Hirnstammaura wird Schwindel als Symptom geschildert. Die ICHD-3 verlangt für diese Diagnose zusätzlich zu visuellen, sensiblen oder dysphasischen Aurasymptomen – also Seh-, Wahrnehmungs- und Sprechstörungen - mindestens zwei Hirnstammsymptome. Weniger als 10 Prozent der Patienten mit einer vestibulären Migräne erfüllen diese Kriterien. Deshalb sind vestibuläre Migräne und Migräne mit Hirnstammaura nicht gleichbedeutend. Allerdings gibt es einzelne Patienten, die die diagnostischen Kriterien für beide Erkrankungen erfüllen (vgl. IHS / ICHD-3).

      3.3.1.2 (familiäre) hemiplegische Migräne

      Besonders die (familiäre) hemiplegische Migräne (FHM) lässt sich in der Praxis manchmal schwer von der Migräne mit Hirnstammaura abgrenzen.

      Die hemiplegische Migräne wird aufgrund der genetischen und pathophysiologischen Unterschiede im Vergleich zu einer Migräne mit typischer Aura als separater Untertyp klassifiziert.

      Unter FHM wird eine Migräne mit Aura verstanden, die eine motorische Schwäche einschließt. Der Begriff „plegisch“ bedeutet in vielen Sprachen „Lähmung“. Die meisten Attacken sind jedoch von einer „motorischen Schwäche“ gekennzeichnet. Die motorischen Symptome halten normalerweise weniger als 72 Stunden an. Es gibt jedoch einige Fälle, in denen die motorische Schwäche (zumindest abgestuft) über Wochen weiterbesteht.

      Genau wie in der symptomatischen Beschreibung der Hirnstammaura, ist es in der Praxis sehr oft schwer, zwischen einer muskulären Schwäche und einem Sensibilitätsverlust (= Wahrnehmungsstörung) zu unterscheiden. Hier ist kommunikatives Geschick der Ärzte gefragt, die die laienhaften Schilderungen ihrer Patienten in entsprechendes „Fachchinesisch“ übersetzen müssen, um diagnostisch besser differenzieren zu können.

      In einer dänischen Studie mit 147 Betroffenen mit FHM zeigten 69% während eines hemiplegischen Migräneanfalls auch die Symptome einer basilären Migräne (vgl. Thomsen et al. 2002).

      Diagnosekriterien FHM

      Die diagnostischen Kriterien der hemiplegischen Migräne gemäß IHS / ICHD-3 sind:

      Kriterium A: Attacken erfüllen die Kriterien für eine Migräne mit Aura und Kriterium B unten

      Kriterium B: Aura, bei der die beiden untenstehenden Punkte erfüllt sind:

       1. Vollständig reversible motorische Schwäche

      2. Vollständig reversible visuelle, sensible und/oder sprech-/sprachbezogene Symptome.

      Bei der familiären hemiplegischen Migräne (FHM) müssen

      1. die vorgenannten Kriterien erfüllt sein und

      2. bei wenigstens einem Verwandten I. oder II. Grades müssen ebenfalls Migräneauren mit einer motorischen Schwäche auftreten oder aufgetreten sein.

      Genetische Datenlage zur FHM

      Fortschritte in der genetischen Datenerhebung erlauben mittlerweile eine genauere Definition der familiären hemiplegischen Migräne: So konnten bereits spezifische genetische Subtypen identifiziert werden: Laut ICDH-3 finden sich bei der FHM des Typs 1 Mutationen im CACNA1A-Gen (Kodierung für einen Kalziumkanal) auf Chromosom 19. Bei der FHM des Typs 2 konnten Mutationen im ATP1A2-Gen (Kodierung für eine K/Na-ATPase, auch: „Natrium-Kalium-Pumpe“) auf Chromosom 1 gefunden werden. Bei der FHM des Typs 3 liegen Mutationen im SCN1A-Gen (Kodierung für einen Natriumkanal) auf Chromosom 2 vor (vgl. Jen et al. 2001).

      Auch finden sich sowohl bei der FHM als auch bei klassischer und gewöhnlicher Migräne Mutationen im SLC4A4-Gen, das für einen Natrium-Bikarbonat-Kotransporter kodiert (vgl. Bastian 2019). Möglicherweise existieren aber noch weitere, bislang nicht identifizierte Abschnitte von mutierten Genen.

      Die familiäre hemiplegische Migräne wird autosomal-dominant vererbt mit einer Häufigkeit von 1:10.000. Bei der autosomal-dominanten Vererbung wird (unabhängig von den Geschlechtschromosomen) sowohl eine unveränderte Kopie eines Gens als auch eine veränderte weitergegeben. Wenn sich die veränderte Kopie gegenüber der unveränderten durchsetzt, wird sie dieser gegenüber "dominant". In diesem Fall ist die Person von der genetisch bedingten Störung oder Erkrankung betroffen.

      FHM und Hirnstammsymptome

      Es konnte gezeigt werden, dass bei der familiären hemiplegischen Migräne zusätzlich zu den typischen Aurasymptomen sehr oft Hirnstammsymptome auftreten. Auch Kopfschmerzen kommen praktisch immer vor. In seltenen Fällen sind während einer FHM-Attacke Bewusstseinsstörungen (bis hin zum Koma), Verwirrtheitszustände, Fieber und eine Liquorpleozytose (= erhöhter Zellgehalt bzw. Vermehrung der Granulozyten in der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit (Liquor cerebrospinalis)) zu beobachten.

      Die familiäre hemiplegische Migräne wird nicht selten auch mit einer Epilepsie verwechselt. Entsprechende Behandlungsversuche scheitern folgerichtig.

      FHM-Typ-1-Attacken können durch (leichte) Schädel-Hirn-Traumen getriggert werden. In ungefähr 50 Prozent der Familien mit FHM tritt unabhängig von den Migräneattacken eine chronische progressive zerebelläre Ataxie auf, das heißt, die normalen Bewegungsabläufe sind dauerhaft und zunehmend gestört (vgl. IHS-ICDH-3).

      3.3.2 psychisches Krankheitsgeschehen

      Die Abgrenzung zu einem psychogenen Schwindel oder Panikattacken ist für Fachärzte im Normalfall kein Problem, wird jedoch in der (Notfall-)Praxis häufig nicht gewissenhaft vorgenommen. Viele (vor allem weibliche) Betroffene werden deshalb mit psychischen oder psychosomatischen