Die Zelle spult dann eine Art Programm ab (öffnet z. B. bestimmte Ionenkanäle), das ihre Membranen durchlässiger für bestimmte Ionen (= elektrisch geladene Teilchen) macht. Dies startet wiederum neue Reaktionen anderer Nervenzellen.
Bei dieser „Nervenreizung“ gilt das Alles-oder-Nichts-Prinzip, das heißt, es geht erst los, wenn ein bestimmtes Niveau an Reizungsintensität erreicht ist - dann aber in voller Ausprägung.
Es folgt eine länger anhaltende neuronale Untererregbarkeit. Dieser Vorgang ist wahrscheinlich derjenige Mechanismus, der für die Migräne-Aura sorgt, so die Forscher, die sich die Vorgänge während der Migräne näher angeschaut haben.
Im Unterschied zur Migräne mit typischer Aura, bei der nur eine der Hirnhälften betroffen ist, sind bei der Migräne mit Hirnstammaura - wie bereits erwähnt - beide Hirnhälften (Hemisphären) betroffen. Alle Symptome fühlen die Betroffenen dann auch beidseitig im Körper – meist symmetrisch. Es kribbeln dann beide Arme oder Beine, Taubheiten entwickeln sich beidseitig im Gesicht, Sehstörungen betreffen dann beide Augen, was dann bis zu vorrübergehender, vollständiger Blindheit führen kann.
4.1 Anatomie des Hirnstamms
Um zu verstehen, warum Störungen im Bereich des Hirnstamms so weitreichende und verschiedenartige Symptome zur Folge haben können, sollte man sich ein wenig mit der Anatomie und Funktionsweise dieser Gehirnregion befassen.
Betroffenen kann dieses Wissen helfen, besser mit der Angst, die häufig während einer Hirnstammaura auftritt, umzugehen. Es gilt: Wenn ich weiß, was da gerade passiert, ist es nur noch halb so bedrohlich.
Die drei Teile des Hirnstamms
Der Hirnstamm besteht aus drei Teilen: der Medulla oblongata (auch verlängertes Rückenmark genannt), dem Pons (deutsch: „Brücke“) und dem Mesencephalon (Mittelhirn).
Die Medulla oblongata ist der Bereich, in dem alle Nervenstränge vom Rückenmark in das Gehirn eintreten und zum Bestandteil des Gehirns werden. Wo genau das Rückenmark aufhört und die Medulla oblongata anfängt, lässt sich nur schwer genau festlegen. Es ist ein fließender Übergang. Die meisten Mediziner setzen die Grenze direkt hinter dem Kleinhirn. In ihrem Verlauf „spannt“ sich die Medulla oblongata rautenförmig auf. Man nennt diesen Bereich deshalb auch Rautenhirn oder Rhombencephalon.
In der Region der Medulla oblongata werden viele lebenswichtige und zentrale motorische und sensorische, also für Bewegung und Wahrnehmung wichtige Aufgaben des Körpers geregelt. Dazu gehört auch die Steuerung des Darms, des Herzschlags und der Atmung. An dieser Stelle des Hirnstammes treten sowohl die Nerven aus dem Innenohr ein, als auch das Hörsystem. Störungen in diesem Bereich wirken sich deshalb direkt auf Gleichgewicht und Hörempfinden aus. Auch Gesichtsmuskeln und der Kauvorgang werden hier über sogenannte Moto-Neurone (= „Bewegungsnerven“) koordiniert. Darüber hinaus treten Zahn- und Kiefernerven und der Trigeminusnerv aus der Medulla oblongata aus.
Die Fortsetzung der Medulla oblongata nach oben, zu den restlichen Teilen des Gehirns ist der Pons. Im unteren Teil des Ponses befinden sich viele überkreuz verlaufende Fasern. Unter anderem wird hier die Mimik, also der Gesichtsausdruck und die Nahrungsaufnahme gesteuert.
Das danach folgende Mittelhirn (Mesencephalon) gehört ebenfalls zum Hirnstamm.
An der Grenze zum Großhirn liegt das „Dach“ des Mittelhirns (Tectum mesencephali bzw. Vierhügelplatte). Die beiden oberen paarigen Hügel (die „Colliculi superiores“) spielen eine wichtige Rolle bei reflexgesteuerten und willkürlichen Augenbewegungen. Die beiden unteren ("Colliculi inferiores") tragen zur Funktion des Gehörs bei.
Ebenfalls im Mittelhirndach liegt die Substantia nigra. Diese (durch angelagertes Melanin dunkel gefärbte) Struktur, ist für die Verschaltung von Bewegungsimpulsen und -abläufen zuständig. Hier sorgen die Neurotransmitter GABA und Dopamin für die Weiterleitung der Nervenimpulse.
Von der Medulla oblongata bis zum Zwischenhirn reicht ein ausgedehntes, diffuses Netzwerk von Nervenzellen (Neuronen): die Formatio reticularis oder Retikulärformation (lateinisch formatio = „Gestaltung“, „Bildung“ und reticularis „netzartig“). Diese Netzstruktur besteht aus zu höheren Hirnzentren aufsteigenden Nerven („Afferenzen“) mit sensorischen Funktionen (= „wahrnehmen“) und zum Rückenmark absteigenden Nerven („Efferenzen“) mit motorischen Funktionen (= „steuern“).
Die genaue Funktion der Retikulärformation ist noch nicht abschließend erforscht. Man weiß jedoch, dass sich dort relativ viele, diffus verteilte sogenannte Riesenneurone („giant neurons“) befinden, die eine wichtige Rolle bei einer Schreckreaktion spielen.
Die Formatio reticularis hilft im Zusammenspiel mit anderen Strukturen (z. B. Vestibulariskerne) bei der Kontrolle von Haltung und Bewegung. Sie reagiert dabei auf Impulse aus dem Innenohr und beeinflusst sowohl die Geschwindigkeit als auch die Qualität von Bewegungsabläufen. Störungen in diesem Hirnbereich können sich demnach als unkoordiniert wirkende oder verlangsamte oder ruckartige Bewegungen bemerkbar machen.
Alle Teile, die zusammen den Hirnstamm bilden, liegen beim Menschen wie ein Baumstamm über den unterliegenden Strukturen, so lässt sich auch die Namensgebung erklären.
Manche Autoren ordnen auch noch Teile des Zwischenhirns (Diencephalon) dem Hirnstamm zu (vgl. Thompson, R. F. 2001). Ob diese Zuordnung für das Krankheitsgeschehen der Migräne mit Hirnstammaura relevant ist, geht aus der Fachliteratur nicht hervor oder wurde bisher noch nicht untersucht.
4.2 Pathophysiologie – Wie entsteht die Migräne?
Warum Migräne überhaupt entsteht und warum sie in vielen Fällen besonders schwere Formen annimmt und/oder chronifiziert, konnte bislang noch nicht vollständig erforscht werden. Wie bereits beschrieben gibt es jedoch eindeutige Hinweise auf genetische Faktoren, die zusammen mit bestimmten Umwelteinflüssen und biologischen Besonderheiten das Auftreten von Migräne wahrscheinlich machen.
Mit Hilfe verschiedener Bildgebungsverfahren gewann man in den letzten Jahren einige neue Erkenntnisse. Forscher fanden mehr darüber heraus, was im zentralen Nervensystem während der Migräne vorgeht. So wurden verschiedene strukturelle und funktionelle Veränderungen im Gehirn festgestellt.
Als Schlüsselkomponenten bei der Migräne sieht man heute das trigeminovaskuläre System, das heißt, die beteiligten Strukturen sind diejenigen Teile des Trigeminusnervs, die zum Auge gehören („ophthalmische“ Teile), Bindegewebsschichten, die das gesamte zentrale Nervensystem umschließen („Meningen“ insbesondere die „Dura Mater“, das heißt die äußere harte Hirnhaut), sowie intrakranielle Gefäße. Auch Impulse, die von Nervenzellen im peripheren zum zentralen Nervensystem geleitet werden (sogenannte „Afferenzen“) spielen offenbar eine Rolle.
Inzwischen gilt das Neuropeptid CGRP (Calcitonin Gene Related Peptide) dabei als Schlüsselmediator in der Migräneentstehung. Zusammen mit der Substanz P bewirkt CGRP eine Gefäßerweiterung ("Vasodilatation") der Hirnhautgefäße, den Austritt von Blutflüssigkeit aus den Gefäßen in das umliegende Gewebe ("Plasmaextravasation") und eine Degranulation von Mastzellen, was zu einer Freisetzung entzündungsfördernder („proinflammatorischer“) Mediatoren, wie Histamin und Zytokin, führt (vgl. Bastian 2019).
Diese "neurogene Entzündung" verursacht dann ausstrahlende Schmerzimpulse - den typischen Migränekopfschmerz. Die Schmerzempfindlichkeit steigt derart an, dass jeder Pulsschlag, der über die Blutgefäße übertragen wird, als pulsierender Schmerz empfunden wird.
Auch Östrogen (wichtigstes weibliches Hormon) kann Migräneanfälle auslösen. Ein möglicher Grund dafür, dass Frauen häufiger als Männer unter Migräne leiden. Migränen können ausgelöst werden, wenn der Östrogenspiegel ansteigt oder schwankt. Dies ist zum Beispiel in der Pubertät