Ein Lebenstraum. Julie Burow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julie Burow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754177402
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      Ein trauriger, schrecklicher Moment aus Delbrucks früherem Leben trat bei den Worten des Mannes lebhaft vor eine Seele. Damals, vor langen Jahren, als er diesen Mann, mit dem Blut und Hirn eines Herrn bespritzt, den Ausdruck des höchsten Jammers in allen seinen Zügen, vor sich stehen sah, war er ein Jüngling, ein eben von der Universität heimgekommener Auskultator, Kropowitz - Kropowitzky, ein kräftiger Mann gewesen. Das nahe Schloss Kanderischken war der Schauplatz, jenes grässlichen Vorfalls, fast seit jenem Tage stand es öde, und das damals so glänzend erbaute, kaum beendete Wohnhaus, dem der Stolz der Bewohner den Titel Schloss gab, zerfiel schnell.

      »Lebt die gnädige Frau noch?« fragte der Alte.

      »Sie lebt noch, ich habe sie vor wenigen Stunden getroffen.«

      »Auch Tante Dorothea, die junge Baronesse?«

      »Auch die, Kropowitzky.«

      »Und der hübsche Siegmund und die kleine Emma?«

      »Sie leben alle, Alter.«

      »Gottes Dank! Und Eleonore Arnold, Herr?«

      »Wer, Alter? Nach wem fragst Du?«

      »Nach der Predigerstochter, Gott, Gott, sie mag auch wohl noch leben, die arme Seele. Herr Refendarius, die haben Sie wohl gar nicht gekannt?«

      Delbruck erinnerte sich, dass eine Tante Leonorens, ein Mädchen von großer Schönheit, die Tochter eines Landgeistlichen, diesen Namen auch geführt hatte. Sie war verschollen, niemand wusste, wo die Schwester des vagierenden Schauspielers sich aufhielt. Die Familie des früheren Pfarrers Arnold war eine von denen, welche das alte Lied so treffend und traurig bezeichnet:

      »Sie sind gestorben, verdorben.« –

      »Möchte die gnädige Frau einmal noch sehen, ein einzig Mal noch«, sagte der Pole, »es möchte vielleicht doch für sie ein Trost sein. Möchte heute, wenn’s Tag wird, nach Kanderischken gehen.«

      »Die gnädige Frau wohnt nicht in Kanderischken, sondern auf ihrem eigenen Gut. –«

      »Glaub’s schon, hier ist’s nirgend geheuer«, meinte der Pole und warf einen langen Blick in die weite Gegend umher, die jetzt im ersten Schimmer eines trüben Morgens sichtbar wurde.

      Der Wind pfiff über die Ebene und jagte die Wolken, die grau in tausend abenteuerlichen Gebilden über das Himmelsfeld flogen. Der Regen hatte aufgehört und im Osten legte sich um den grauen, falbigen Wolkenmantel ein blutroter Saum, der allmählich im goldenen Lichte zu erschimmern begann. Lerchen schwangen sich trillernd vom Boden auf, in der Ferne krähten Hähne und antworteten einander. Die Polen standen von ihrem feuchten Lager auf, bekreuzten sich, schlugen Stirn und Brust und beteten ein Ave. Delbruck gab seinen Gefährten ein Silberstück, beauftragte sie, seinen Kutscher und den Wagen aufzusuchen und nach Kanderischken zu schaffen, trank aus der Flasche, die der alte Kropowitzky ihm gastlich reichte, einen Schluck Branntwein und ging eilig, um sich zu erwärmen, auf dem Wege nach Kanderischken vorwärts.

      Siebzehntes Kapitel.

      Ein Wald von Eichen und Buchen trennte den Wanderer noch von dem ehemals glänzenden Sitz der Barone von Kandern. Ein Heckenzaun, der nirgends sehr sichtbar, jetzt aber an vielen Stellen verfallen war, schied Park und Wald. Delbruck sprang, um nicht erst das Pförtchen zu suchen, an einer dieser verfallenen Stellen über und ging auf das Schloss zu, das hie und da zwischen den alten Bäumen hindurchschimmerte. –

      Mit wie vieler Einsicht, mit wie großem Geschmack war hier alles angelegt und geordnet. Ein Arm der Schwantowit fließt fast mitten durch den Park. Man muss bergab klettern, um zu dem Fluss hinzugelangen und sieht sich dann in einem schmalen Tale, das mit Linden in regelmäßigen Reihen bepflanzt ist. Einst hatte man alle diese Bäume kuppelförmig geschnitten und sorgsam unter der Schere gehalten, jetzt streckten sie die wuchernden, prächtig grünen Äste mit Blüten beladen in alle Himmelsgegenden und beschütteten den zwischen ihnen hineilenden Delbruck mit einem Regenschauer.

      Eine Brücke von Birkenstämmen, einst auf das Zierlichste gearbeitet, führt unter diesen Linden über den Fluss, der sich fünfzig Schritte hinter demselben zu einem mächtigen See erweitert, dessen klaren Spiegel eine grüne Insel schmückt. Das Dach einer Rotunde ragt hier zwischen üppig grünen Baumzweigen hervor. Ein moosiger, gebrechlich aussehender Kahn schwankte, an einen Pfahl gebunden, in einem Dickicht von Rohr, das seine feuchten Blütenfedern im Morgenwinde wehen ließ. Einst hatten Schwäne diesen See belebt, man sah das Häuschen noch, das zu ihrem Schutze erbaut war. –

      Weiter den Park durchschreitend, ging Delbruck über einen Platz, auf dem Schaukeln aller Art, Karussell und Wiegeschaukel, Kreuzschwinge und russische Schaukel einst dem Vergnügen der Besitzer gedient hatten. Jetzt sahen die Gerüste morsch und verfallen aus und es würde niemand so leicht gewagt haben, sich ihnen anzuvertrauen. Auf dem Wiesenplan, wo sie standen, wucherten Nesseln und Brombeerranken, man sah, dass lange, lange kein Fuß ihn des Vergnügens wegen beschritten hatte. –

      Unter Bäumen, die ihre Äste dicht ineinander verschränkten, stand eine Mooshütte, deren Tür aus den Angeln gefallen, im Innern die rohe Statue des Perkunos, Pikullos und Potrimpos enthielt, dieses dreiköpfige Symbol der alten Letten, das wie der Brama, Wischnu und Schiven der Hindu, das Entstehen, Wachsen und Vergehen bezeichnet. Das Götzenbild war in dieser Stelle in der Erde gefunden worden und stand hier nun schon – Delbruck wusste nicht genau, wie viel Jahre, aber er wusste, dass er an diesem einsamen, dunkeln und unheimlichen Platz manches Stelldichein mit hübschen Zofen gehabt hatte, und er sah mit seinem eigentümlichen Lächeln die kleine Moosbank an, die unter einer Buche jetzt verlassen und verwittert dastand. –

      Als er aus dem Dickicht hervortrat und einen Blick auf die von hier vollkommen sichtbare Fronte des Schlosses warf, fiel dieser auf die behäbige Gestalt des Oberinspektors Rauscher, der neben einem andern Herrn auf dem Rasenplatz stand und ganz gemütlich in den kühlen Morgen seine Pfeifchen dampfte. Auch der Oberinspektor wurde des übernächtigen, verregneten Gastes gewahr, der so unverhofft und auf einem ganz ungewöhnlichen Wege sich an einem Orte einfand, der sonst von Gästen nicht eben besucht wurde.

      »Alle guten Geister!« sagte der Dicke, dem Justizrat entgegeneilend, »gehen Sie spuken, Delbruck? Was führt Sie denn beim Morgengrauen, wo Stadtleute noch im ersten Schlaf liegen, her in das Eulennest – Gott verzeih’ mir die Sünde!«

      Delbruck erzählte die Abenteuer der Nacht, und Rauscher winkte nun seinem Gefährten.

      »Komm her, immer her, Michel, der Justizrat, mein Bruder, Assessor Rauscher.«

      Der jüngste Sohn, das Nesthäkchen der würdigen Beschließerin, war ein Mann von etwa zweiunddreißig Jahren, groß, schlank und von hübschem Aussehen. Er kam aus der Residenz, wo er eine kleine, sehr kleine Anstellung hatte, jedoch hoffte er bald auf eine bedeutendere in seiner Heimat. Die Herren kannten sich schon, wenigstens erinnerte sich Delbruck Rauschers, der bei seinen früheren Besuchen auf Ragunen, beim General Lollhardt als ein kleiner Junge auf dem Parkrasen gespielt hatte, und da sie beide Juristen, so wurde das Gespräch bald genug lebhaft.

      Man ging in das Schloss, das mit geschlossenen Fensterladen und niedergelassenen Gardinen und im ersten Stadium des Verfalls an den blinden, bettelnden Belisar erinnerte. Guten, trefflichen Kaffee aber fand man in dem leeren Gebäude und der Kuh-Pächter von Kanderischken trug auf, was nur Küche und Keller vermochten.

      Nach einer Stunde erschien dann auch der zerbrochene Wagen, die müden Pferde, Donaleitis, Kropowitzky und die sämtlichen Czinokys, und Inspektor Rauscher sorgte, dass es von allen Lebendigen des Zuges wie in der Bibel heißen konnte:

      »Und sie aßen und tranken und wurden alle satt.« –

      Anfangs hatte der Justizrat beabsichtigt, nach Kaimehlen aufzubrechen, sobald nur der Schaden am Wagen vom Dorfschmied notdürftig gebessert. Die Brüder Rauscher überredeten ihn indessen, bis zum folgenden Morgen, wo auch sie dorthin wollten, in Kanderischken zu bleiben;