Ein Lebenstraum. Julie Burow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julie Burow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754177402
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auf seiner Einfassung. Eine Vergangenheit flog an ihrem Herzen vorüber, so überfüllt von Schmerz, Zorn und Groll, dass der Gewitterregen, der rauschend an ihre Fenster zu schlagen begann, dass der Sturm, der die Zweige im Park beugte und der rollende Donner nur ein passendes Accompagnement zu ihren Gedanken bildeten.

      Sechszehntes Kapitel.

      Justizrat Delbruck war in dieser Gewitternacht draußen. –

      Er hatte beabsichtigt, Kaimehlen mit dem dunkelnden Abend zu erreichen, aber die angeschwollenen Fluten der beiden kleinen Flüsschen Scheschuppe und Schwantowit, die vom Ural die trüben Johanniswasser in ungewöhnlicher Menge empfangen, hatten ihn aufgehalten.

      Eingehüllt in seinen Regenmantel, die Kappe über die Ohren gezogen, saß er in der Ecke seines geräumigen Wagens. Nur wenn ein besonders greller Blitz die Gegend beleuchtete, blickte er empor und es rann wie ein Schauder durch seine Glieder.

      Der Weg zieht sich zwischen dem Judenstädtchen Zudargen und der alten Herrschaft Kaimehlen längs des Memelstromes hin. Weit und breit war hier zur Zeit keine menschliche Wohnung sichtbar, und die Memelufer teils mit Unterholz-Beständen, teils mit jenen kleinen, moosigen Hügeln bedeckt, die der Landmann jener Gegend, der sie Palwe nennt, so sehr hasst und fürchtet, weil sie aller Kultur Trotz zu bieten scheinen. – Die rüstigen litauischen Pferdchen rannten trotz Blitz und Sturm, und der alte Donaleitis lenkte sie furchtlos und geschickt. Wenn aber ein Blitz eben niedergefahren, erschien die Dunkelheit der Nacht fast greifbar. Der Weg ist dort nichts weniger als Kunststraße, und plötzlich stieß eines der Hinterräder an einen Stein, der Wagen schlug um und der Justizrat sah sich genötigt, allerhand ihm gar nicht geläufige Seiltänzerkunststückchen zu machen, um seinem verschütteten Herkulanum entsteigend, an dem für den Augenblick gen Himmel ragenden Fußtritt das Hinabklettern zu bewerkstelligen.

      Das Rad war rettungslos zerbrochen und die Situation des Reisenden, um Mitternacht auf einsamem Landwege und bei einem echt ostpreußischen Gewitterschauer, keinesweges comfortable.

      »Pons Richter, wie nu?« fragte der Litauer kleinlaut.

      Die Frage war offenbar leichter als die Antwort. –

      »Wohinaus liegt hier das nächste Dorf, oder die nächste Schenke?« gegenfragte Delbruck.

      »Nirgend geheuer hier, Pons Richter! Kornmutter, Waldmann, Nix, alles hier spuken«, sagte der eine pudelnasse Litauer kläglich, worauf ihm Delbruck gar nichts antwortete; denn das Wort:

      »Rindvieh«, das er zwischen den Zähnen murmelte, dürfte nicht eigentlich als eine Antwort gelten, es war nur eine Herzenserleichterung.

      »Keine tausend Schritt von hier«, sagte er endlich nach einer ziemlichen Weile, während der Regen ihm von Kappe und Mantel niederströmte, »muss man auf den Weg nach Kanderischken kommen, das wir, wenn wir die rechte Richtung treffen, in einer Viertelstunde von hier aus erreichen können.«

      »Geht nicht, Pons Richter, geht gar nichts. Elfen-Palwe zwischen uns und dem Wege, Waldmann uns packen, am Heidefeuer verbrennen.«

      Delbruck schritt, ohne auf des Litauers Einwurf zu achten, bis möglichst nahe an das Stromufer, stellte sich dann so, dass er das brausende Wasser im Rücken hatte, und suchte mit Anstrengung all’ seiner Nervenkraft mit seinem Blick das dichte Dunkel vor sich zu durchdringen.

      Ein plötzlich leuchtender Blitz zeigte ihm eines der ihm bekannten Wegzeichen, eine alte, halb abgestorbene Weide, die mitten auf dem Palweboden an einer feuchten Stelle ihr kärgliches Leben fristete.

      »Bleibe bei Wagen und Pferden Donaleitis«, sagte er nun, schon etwas beruhigter, »ich will Menschen aufsuchen.«

      Der Litauer kauerte resigniert sich neben dem zerbrochenen Wagen zusammen und ließ die Wässer des Himmels über sich wegströmen. Delbruck aber schritt rüstig zu, bis er jene Weide erreicht und erfasst hatte. Dann wandte er sich rechts und erreichte bald einen mit Weiden, Kornelkirschen und anderem Unterholz bedeckten Hügel, wo die nassen Zweige ihm, während er ihn überkletterte, unartig ins Gesicht schlugen. An der andern Seite hinabsteigend, übersprang er dann einen Graben, dessen Ränder Erlbüsche umsäumten, und sah sich in kurzem in einem kleinen Gehölz von Birken, Kiefern und niederem Pappelnaufschuss, das er zu durchschreiten begann, als das Aufblitzen eines Lichtes ziemlich in seiner Nähe ihn mehr noch in Verwunderung als Schreck versetzte. Wollte er indes seine Richtung behalten, musste er der unerwarteten Erscheinung entgegenschreiten, und so sah er sich nach einigen Minuten einer Gruppe bärtiger Männer gegenüber, die um ein niederbrennendes Feuer gelagert, zwischen sich und dem strömenden Himmel kein Schutzdach hatten als einige träufelnde Zweige. Ihre leinenen Kittel, ihre runden Hüte, der Gurt, den sie umgeschnallt hatten, und die schlechte Geige, die an demselben hing, ließen Delbruck sogleich erkennen, dass er sich einer Gruppe polnischer Leibeignen gegenüber befand. – Diese Menschen, meistens aus Wolhyniens und Podolien stammend, kommen im ersten Frühling auf flachen Fahrzeugen, die man je nach ihrer Bauart, Gallert oder Villinnen nennt, zum Teil den Bug und Narva hinunter, nach den Weichselstädten Elbing und Danzig, zum Teil auf der Wasserstraße, die das Gebiet des Memelstromes bildet, nach Tilsit und dann durch den Friedrichsgraben nach Königsberg, oder durch die Wasserverbindung der Russe und Gilge nach Memel und bringen Holz, Getreide, Hanf und Talg nach den Ostseehäfen. Dort werden ihre ganz ohne Eisen gebaute Fahrzeuge als Bau- oder Brennholz verkauft, und die Leute gehen dem Lauf der Ströme folgend, in ihre Heimat zurück, sich unterwegs gegen geringen Tagelohn bald als Mäher, Schnitter oder Drescher verdingend, bald auch wie die Slowaken in Siebenbürgen das Geschäft der Scherenschleifer oder Kesselflicker treibend. – Immer aber hält sich auf ihren Marktzügen eine Partie Nachbarn und Gefreundeter zusammen, die sich freiwillig unter die Autorität eines Anführers stellt, der auf einer schlechten Geige die Tänze ihrer Heimat: Mazurka, Polonaise und Krakowienne spielend und die Töne mit seinem Gesange begleitend, in welchen von Zeit zu Zeit der Chor einfällt, dem Zuge vorangeht. Es gibt wenig Wesen aus der großen Menschenfamilie, die in Einfachheit, Harmlosigkeit, Dankbarkeit und Genügsamkeit diesen armen Naturkindern gleich stünden. –

      Die, welche Delbruck hier traf, waren wie er im Laufe der Nacht vom Wetter überfallen, doch hatte sie dasselbe in ihrem Nachtquartier unter den Zweigen einer alten mächtigen Linde, ihn nur auf dem Wege zu demselben getroffen. Dem Justizrat lief der Regen trotz des wasserdichten Mantels über die Haut. Die Tropfen hatten sich bei der Halsbinde Bahn gebrochen und rieselten in gemessenen Absätzen eisig seinen Rücken entlang, ihm ein höchst unbehagliches Gefühl erregend. Die Polen waren nass wie Dachtraufen und jeder hätte da, wo er sich hinstellte, aus seinen Kleidern einen aparten kleinen Gussregen schütteln können. Sie standen aber nicht, sondern lagen ruhig auf dem nassen Boden, und einer, der durch die Geige an seinem Gurt sich als der Zugführer erkennen ließ, warf von Zeit zu Zeit dürre Äste und Moos auf das Feuer, das dann, nach einigem qualmenden Rauch von neuem aufflammte. – Delbruck grüßte, und die Leute erhoben sich um in ihrem »padam do nóg« sich ihm zu Füßen zu werfen.

      »Wo geht der Weg nach Kanderischken?« fragte er nun in ihrem eigentümlichen Dialekt, und der Anführer begann, ihm auseinanderzusetzen, dass zwischen ihrem Lager und dem Schloss noch ein breiter Bach zu überschreiten sei, der in dem Regen gewiss die Passage hindern würde. Es war ein großer, schöner Greis, dem der Silberbart und die langen silbernen Locken etwas Patriarchalisches gaben. Delbruck musste das Gesicht immer wieder betrachten, es kam ihm unsäglich bekannt vor, und da er einsah, dass jede Möglichkeit, unter Dach zu kommen, ihm bis zum Anbruch des Tages, der indes nicht zu fern sein konnte, genommen sei, so hielt er es für das Beste, bei Menschen und in der Nähe eines Feuers zu bleiben und lagerte sich mitten unter die Czinokys neben dem Alten, der ihm ehrfurchtsvoll den Platz einräumte, den sein eigner Leib auf dem Moosrasen trocken erhalten.

      »Habe ich Dich schon irgendwo gesehen, Alter?« fragte Delbruck seinen Nachbar, als ein greller Feuerschein ihm wieder den bekannten Ausdruck dieser Züge zeigte, und nicht wenig war er erstaunt und überrascht, als der Pole in gutem Deutsch mit dem echten breiten Dialekt des Ostpreußen antwortete: