Ein Lebenstraum. Julie Burow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julie Burow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754177402
Скачать книгу
ging an den Bücherschrank und betrachtete die auf den eleganten Rücken gedruckten Titel. Herders sämtliche Werke, Lessings sämtliche Werke standen, sehr in die Augen fallend, Hippels Werke schlossen sich ihnen an, dann folgten Goethe, Schiller, Zimmermann. Dann eine Reihe in schwarzen Einbänden: Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, das Leben der Fürstin von Galitzin, Vincent de Paula, Thomas von Kempis von der Nachfolge Christi, die Bibel, Stunden der Andacht, und dicht darunter Littrows Wunder des Himmels, Brandes Briefe, Ritters Geographie, Okens Naturgeschichte, Buffons Naturgeschichte, und eine Menge anderer Bücher wissenschaftlichen Inhaltes.

      Im untersten Fache aber lagen viele in Quart-Format mit einem geschriebenen Titel, und als Lorchen recht hinsah, las sie die Aufschrift:

      »Tagebuch.«

      Das junge Mädchen betrachtete das alles mit einem Gefühl des höchsten Interesses für die Bewohnerin.

      »Wie glücklich die Dame ist, die sie hier Tante Dorchen nennen, wie gern möchte ich sie nur kennen«, dachte sie und fast in demselben Augenblick öffnete sich eine Tapetentür, und ein Geschöpf trat ins Zimmer, vor dem sie unwillkürlich zurücktrat, denn nie in ihrem Leben hatte sie noch eine ähnliche Missgestalt gesehen.

      Der Körper in seltsamster Weise verkrümmt und verwachsen, war in ein mantelartiges Kleidungsstück von einem dünnen, dunkelgrauen Stoff gehüllt, und trug einen unförmlichen, großen Kopf mit eisgrauen Haaren. Das Gesicht war von tiefen Narben so bedeckt, dass auf demselben auch nicht ein Finger breit ohne solche zu finden war und nur die großen samtschwarzen Augen und eine auffallend breite weiße Stirn ließen die Spuren eines edlen, aber verstümmelten Menschenantlitzes erkennen. Die unglückliche Erscheinung hatte lange Arme, die ebenfalls in dunkelgrauer Hülle steckten, aus welcher aber, seltsam genug, blendend weiße, feine, schön gestaltete Hände hervorsahen, die zu dem verkrüppelten Körper, zu dem entstellten Angesicht gar nicht zu gehören schienen.

      Die großen schwarzen Augen, welche einen Moment lang wie edler Granat einen rötlichen Schimmer annahmen, ruhten auf Leonorens erstauntem Gesichte, und eine Stimme, die, obgleich aus dem entstellten Munde dringend, dennoch von unsäglicher Lieblichkeit war, fragte:

      »Wie kommen Sie hierher, liebes Kind?«

      »Man wies mich in das Zimmer, um mich umzukleiden«, antwortete Lorchen nicht ohne Verlegenheit.

      »Gut! Gut!« sagte die Eingetretene sanft:

      »Seien Sie mir herzlich willkommen. Sie sind wohl das junge verirrte Mädchen, das Fräulein Thekla von Dobezutka im Walde gefunden?«

      Lorchen bejahte mit gesenkten Augen.

      »Und Sie heißen?« fragte die Verwachsene weiter.

      »Leonore Arnold.«

      »Wie, Sie sind – hm, Sie kennen meinen Neffen Siegmund, nicht wahr? Ja, ja, Sie passen ganz zu der Beschreibung, die er mir von Ihnen gemacht, nun da seien Sie mir doppelt willkommen, man nennt Sie Lorchen, nicht wahr?«

      »So nannten mich meine Eltern, Tante Delbruck wollte mich Laura rufen, gewöhnte sich aber hernach an den einfachen Namen.«

      »Ich, mein liebes Kind, heiße Dorothea Baronin von Kandern, war auch einst ein junges, hübsches Mädchen, aber das ist schon lange her und bin nun im ganzen Hause, im ganzen kleinen Kreise meiner Bekanntschaft, Tante Dorchen; sobald man sich an meine äußere Erscheinung gewöhnt hat, pflegt man mich recht gern zu haben. Meine beiden Nichten, Thekla und Siegmunds Schwester Emma lieben mich wenigstens von ganzem Herzen und Siegmund selbst hält mich fast ebenso hoch als seine Mutter. Sie sind ein junges und sehr liebliches Kind und alles, was mein Neffe von Ihnen sagte, hat mir großes Interesse für Sie eingeflößt.«

      Lorchen errötete vor Freuden und hätte gern die weißen, feinen Hände der Dame, die sich eben damit beschäftigte, einen Korb mit allerhand Dingen vollzupacken, die sie aus einem Schrank nahm, an ihre Lippen drücken mögen, aber sie wagte es nicht, doch fiel es von ihrem Herzen wie eine Last, und sie fühlte sich beinahe froh durch das kurze Gespräch.

      »Ich habe noch einen Gang zu gehen«, sagte das alte Fräulein von Kandern, nachdem sie den Korb, der mit Kaffee, Tee, Zucker, Wein und Eingemachtem fast bis unter den Bügel gefüllt war, noch mit einem weißen Tuche bedeckt und über ihren langen dürren Arm gestreift hatte, »bleiben Sie indes ruhig hier oder gehen Sie auch in das Nebenzimmer, beschäftigen Sie Sich mit den Büchern, die Sie zu interessieren scheinen, oder stricken Sie, spinnen Sie – wenn Sie’s verstehen – lassen Sie sich überhaupt nur nicht die Zeit lang werden, liebes Kind, und sind Sie müde von der hässlichen Nacht im Walde, so legen Sie Sich hier im Nebenzimmer aufs Sofa und träumen von besseren Zeiten. Gott befohlen, Kleine!«

      Sie reichte dabei Leonoren die Hand, die diese unwillkürlich an die Lippen zog und ging rasch hinaus, und wie Lorchen hören konnte, auch aus der Haustür. Höchst erfreut machte sie von der ihr gegebenen Erlaubnis Gebrauch, öffnete den Bücherschrank, langte einen Teil von Goethes Werken hervor und schlug aufs Geratewohl ein Blatt auf. Es war Faust, und das junge Mädchen las mit einem Entzücken, das sich mit Staunen mischte, das göttliche Fragment eines Menschenlebens bis zu jener Zeile, in der die Engelstimme das gefallene Gretchen für gerettet erklärt. Alle Saiten ihres Herzens erbebten und tönten bei dieser Lektüre.

      Sie hatte bei Fausts Monolog begonnen, und als sie fertig war, schlug sie noch einmal den Anfang auf und las nun den Prolog im Himmel und jede Zeile dieser Wunderworte prägte sich ihrem Gedächtnis unverlöschlich ein. Träumend saß sie da, den Kopf in die Hand gestützt, das Buch auf den Knien und wiederholte sich Gretchens Geschick, das eher glücklich als beklagenswert erschien. – Gretchen hatte eine Mutter, einen Bruder, Gefährtinnen, mit denen sie plauderte und arbeitete und fand dann noch einen Mann, einen solchen Mann, der sie liebte. Seit gestern verstand sie, wie Gretchen sich verfehlt, aber die Stimme des eigenen Herzens, die noch unverbildet in ihrer natürlichen Reinheit und Wahrheit sprach, sagte ihr auch, dass Gretchens Fehltritt ach wie sehr zu entschuldigen sei und über den Tod des Kindes und der Mutter des armen Gretchens blieb sie in einem unlösbaren Zweifel. Ihre Mutter hatte Gretchen nicht töten wollen – armes, armes Gretchen! Und ihr Kind hatte sie in Verzweiflung und Todesangst ertränkt. So sehr aber auch Gretchens Geschick Leonorens Seele beschäftigte, es blieb ihr ein Tröpfchen im Ozean der Gedanken, welche ihr den Lobgesang der Engel erweckten:

      »Die Sonne tönt nach alter Weise

      In Brudersphären Wettgesang«,

      flüsterte sie vor sich hin und dann wieder:

      »Und schnell und unbegreiflich schnelle

      Dreht sich umher der Erde Pracht.«

      Ihr war zu Mute, als ob die Worte des großen Dichters ihr erst das Geheimnis der Schöpfung anschaulich gemacht hätten, und mit wahrem Entzücken öffnete sie ein mächtig großes Buch mit Kupfern und Karten, um von den Wundern des Himmels zu lesen. In diesem Augenblicke fuhr aber der Reisewagen des Onkels in den Hof und Leonorens Herz stand still in unsäglichem Entsetzen bei der Gewissheit, ihm jetzt entgegentreten zu müssen. Auch Dorothea von Kandern war heimgekehrt und blickte teilnehmend auf ihren jungen tödlich erbleichten Gast.

      »Was ist Ihnen, mein Kind?« fragte sie sanft, als Lorchen heftig zitternd von ihrem Stuhle sprang, indem sie sah, dass eben der Justizrat Delbruck ausstieg und auf das Haus zuschritt.

      »Schützen Sie mich, o gnädiges Fräulein, um des barmherzigen Gottes willen, schützen Sie mich!« schrie sie mit so herzbrechendem Tone, dass Dorotheen die Tränen in die Augen traten.

      Mit sanfter Hand zog sie das bebende Kind zu sich, indem sie selbst sich niedersetzte, und fragte mit milder Herzlichkeit:

      »Was ist Ihnen begegnet, armes Mädchen, wogegen soll ich Sie schützen?«

      Der schreckliche Mann, an den sie überliefert werden sollte, war nahe, die Fragerin voll Güte.

      Wie das gehetzte Reh mit bebenden Flanken ins Wasser springt vor der verfolgenden Meute, so Leonore. Die größere Scham überwand die geringere, und auf den Knien liegend, die Augen mit der Hand verdeckt, erzählte sie von der entsetzlichen