Der Säbeltänzer. Erhard Regener. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Erhard Regener
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754926758
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war so still und zurückhaltend."

      "Davon hat man auf dem Berg Matratzen da hinten in der Abseite aber nichts mehr gemerkt."

      "Ich glaube es einfach nicht. Wie hast du das nur angestellt?"

      "Ich habe sie im Gehen bei der Hand genommen."

      "Weiter nichts? Einfach so, nur an der Hand genommen? Du hast fast nicht mit ihr geredet."

      "Okay, Atsche. Du wirst es auch noch lernen. Aber mal was ganz anderes: Warst du heute schon in der Küche?"

      "Wie denn? Ich bin gerade erst aufgestanden."

      "Junge, das sieht da drinne aus wie auf'm Schlachtfeld. Überall Blut, Federn, Eingeweide und ein Gestank, sage ich dir. Wir müssen da unbedingt sauber machen."

      "Vergiss es! Seit wann putzt der Chefkoch die Küche? Wir sagen, das waren die Vietnamesen. Das glaubt uns jeder sofort aufs Wort."

      6. Nicotiana tabacum

      Kaum waren die Einführungsveranstaltungen gelaufen, gab es schon die erste Pause in einem Studium, das noch gar nicht begonnen hatte: drei Wochen Erntehilfe. Die Studenten wurden jeden Tag im Bus auf ein entlegenes Dorf gefahren, um die LPG[1]-Bauern bei der Tabakernte zu unterstützen, genauer gesagt: wie Tagelöhner Tabak pflücken - eine echte Scheißarbeit. Immerhin war man an der frischen Luft und die letzten Septembertage noch angenehm warm.

      Nach ihrem Job auf der Plantage hatten sie abends noch ein wenig im Wohnheim gefeiert. Atsche ging spät, aber doch früher als gewohnt. War es ein Zufall, dass er die Feier gleichzeitig mit Katrin verließ? Er wertete es als solchen und dachte nicht weiter darüber nach. Er hatte kaum mit Katrin geredet, sich den ganzen Abend nur um Gabi bemüht, bis bei ihm endlich die Erkenntnis gereift war, heute wieder einmal auf das falsche Pferd gesetzt zu haben. Damit war für ihn der Reiz der Fete verflogen. Seinen begrenzten Vorrat an emotionalem Pulver hatte er verschossen, die Schlacht war verloren. Ernüchtert entschloss er sich zum Rückzug. Er ging neben Katrin den langen Flur entlang und zwang sich zu einer nichtssagenden Unterhaltung. Im Gegensatz zu ihm war das Mädchen aufgeräumt und redselig. Wenn sie bei einer Bemerkung lachte, leuchtete eine Reihe weißer Zähne zwischen ihren weichen, rosafarbenen Lippen. Ihr weiter Pullover ließ wenig von ihrer Figur erahnen und erst jetzt bemerkte Atsche ein, unter der dicken Wolle schwer auszumachendes Detail: Sie trug keinen BH. Atsche wusste genau, wie es unter dem Pulli aussah, hatte er Katrin doch noch bildhaft von seinem Besuch in der Gemeinschaftsdusche in Erinnerung. Vor seiner Zimmertür blieben die beiden stehen, das Thema Mensa war noch nicht ganz abgehakt. Doch statt einen Abschluss zu finden, ging das Gespräch auf verschlungenen Wegen zu Hunden über, auch Katrin hatte einen Teckel, und Atsches Zunge lockerte sich zusehends. Die Unterhaltung wollte und wollte nicht enden. Und je länger sie dauerte, umso mehr änderte sich ihr Charakter: Aus logischen Darlegungen wurden Anspielungen. Atsche begann allmählich aufzutauen und unterstütze seine Wortbeiträge mit übertriebenen Gesten. Katrin lehnte sich beim Reden zuweilen an die Wand, setzte ein Bein nur mit der Fußspitze auf den Boden, spielte dabei mit ihren Fingern oder strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Bei einer spaßigen Bemerkung berührte sie wie nebenbei mit dem Handrücken seine Schulter. Auch beider Augenpaare wurden mehr und mehr Teil der Konversation: ungläubig geschlossen, schelmisch zusammengekniffen, zwinkernd, begeistert leuchtend, entsetzt rollend, erstaunt aufgerissen. Katrin war sicher nicht der Typ Mädchen, um berechnend kokett zu sein. Aber wenn sie sich lachend weit zurückbog und ihre hellenischen Brüste eine deutlich sichtbare Wölbung unter dem dicken Pulli bildeten - hätte der Balztanz der Kraniche eindeutiger sein können?

      Atsche brach das Gespräch abrupt ab.

      "So Katrin, wir müssen morgen wieder zeitig raus. Wir sollten zu Bett gehen.", das Mädchen schien etwas verwirrt.

      "Ja, du hast wohl recht.", augenblicklich war die rosa Aura aus ihrem Gesicht verschwunden.

      "Gute Nacht, Katrin."

      "Ja dann, gute Nacht.", sie löste sich von der Wand, ließ die Arme sinken und während sich ihr Körper schon zum Gehen wandte, sah sie ihn immer noch an. Atsche merkte, wie eine Fernsteuerung in ihm seine Hand um ihren Nacken legte und er Katrin vorsichtig auf ihre erstaunten, leicht geöffneten Lippen küsste. Sie reagierte mit keinem Muskel. Ungläubig ließ er ab und sah sie an. Doch das Lächeln in ihrem Gesicht belehrte ihn, dass ihre Sekundenstarre nicht Widerstand, sondern Überraschung gewesen war. Er zog sie an sich. Erleichtert und befreit von jedem Zweifel trafen sich ihre Münder. Körper, Puls, Atem: alles reagierte und spielte miteinander. Mit seinen zwanzig Lenzen hatte er in den letzten beiden langen Jahren kein Mädchen mehr geküsst - und von den wenigen davor hatte es keine so angenehm und gefühlvoll inszeniert wie jetzt Katrin. Atsche war in dieser Beziehung völlig ausgehungert und sog jedes Detail begierig in sich auf. Eine ungewohnte, fast vergessene, wohlige Wärme stieg in ihm auf. Das tat so unvorstellbar gut. Der französische Kuss ist die wohl wunderbarste Erfindung des menschlichen Zusammenlebens. Der Grund seiner Wirkung ist schwer erklärbar, aber niemand wird leugnen, dass allein das, auf das Innere des Mundes beschränkte, Spiel der Zungen, beider Atmen und Saugen den ganzen Leib ausfüllt. In manchen Kulturkreisen wird allein der Zungenkuss schon als Ehebruch gewertet. Vielleicht, weil es neben dem Sex die einzige Möglichkeit ist, in den äußerlich abgeschlossenen Körper des jeweils anderen einzudringen.

      Atsche nahm ihre Hand und zog sie in sein Zimmer. Selbst ohne Licht kannte er jede Einzelheit an ihr: ihre festen Brüste, die sparsame Schambehaarung. Doch im Unterschied zur Dusche hielt er nun diesen mädchenhaften, biegsamen Körper in seinen Armen, hatte den Duft ihrer Haare in seiner Nase und ihren schweren Atem an seinem Ohr. Sie war so eng, dass ihn die geringste seiner Bewegungen in ihr erzittern ließ. Ja, erst jetzt war er ein Mann. Erst jetzt hatte er erfahren, dass zwischen Beischlaf und Selbstbefriedigung Welten liegen konnten.

      Am nächsten Morgen im Tabakbus setzte sich Katrin neben Atsche, legte wie selbstverständlich ihre Hand auf sein Knie, sah ihn freudig an und nahm dann seine Hand, als wären sie ein Paar.

      "Guten Morgen, Atsche. Na, gut geschlafen?", strahlte sie ihn an, als erwarte sie eine Erwiderung auf ihre Anspielung. Atsche war überfahren und etwas hilflos. Ganz offensichtlich hatte Katrin die letzte Nacht falsch verstanden. Atsche war sich keiner Schuld bewusst, hatte ihr nichts versprochen, ihr keine süßen Worte ins Ohr gesäuselt. Er hatte nur das getan, wonach ihnen beiden gestern Abend der Sinn gestanden hatte, und er war davon ausgegangen, dass sie es ebenso sehen würde. Er war hin und her gerissen. Einerseits konnte er sich nicht vorstellen, dass Intimitäten mit irgendeinem anderen Mädel je besser sein könnten als mit Katrin. Sie vereinigte in sich die beiden Arten des gegenseitigen Eindringens scheinbar perfekt - den Kuss und die Vereinigung im Beckenbereich. Und Atsche war überzeugt, der ihr eigenen, so erregenden Enge nicht noch einmal in seinem Leben zu begegnen. Ja, wie sehr hätte ihm die ein oder andere Wiederholung dieser Übung mit Katrin gefallen. Aber andererseits, nein: So dankbar er ihr für dieses gestrige Geschenk war, so wenig passte ihre heutige Reaktion in seine Planungen. Gerade hier, frisch an der Uni, konnte er sich doch nicht gleich in den ersten Tagen festlegen. Er war anderthalb Jahre im Knast gewesen, anders kann man die Zeit in der Armee nicht bezeichnen, jedenfalls nicht in dieser Armee. Jetzt hieß es, das Versäumte nachzuholen. Darüber konnte er aber hier im prall gefüllten Bus nicht mit ihr reden. Und selbst wenn sie allein gewesen wären - er war unfähig, über solche Dinge überhaupt zu reden. Länger als ein paar Sekunden konnte er ihr seine Hand nicht überlassen. Sie war sichtlich enttäuscht. So leid sie ihm in diesem Moment tat, so unwohl fühlte er sich selbst hier dicht neben ihr. Dabei war sie frisch geduscht und ihr Duft ließ ihn nicht ungerührt. Während der Fahrt redeten sie kaum.

      Um die Mittagszeit, verloren im riesigen Tabakfeld, pflückte Atsche die letzten Blätter vor der Pause. Im Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung und unvermittelt tauchte Katrin in derselben Reihe vor ihm auf. Sie lächelte ihn an, genau wie gestern Abend. Der Tabak war so hoch wie sie selbst, niemand konnte sie sehen, niemand außer ihnen war mehr auf dem Feld. Oh Gott, warum musste sie es ihm nur so schwer machen? Da bemerkte er ein merkwürdiges Zwicken in seinem rechten Ohr. Ein winziges rotes Männlein kroch daraus hervor, es sah aus wie Hecki, bis auf die Farbe.

      "Mensch Junge, lass dir das