"Halt, tu das nicht! Das Mädchen ist verliebt, siehst du das nicht? Genau deswegen darfst du das jetzt nicht ausnutzen."
"Sei kein Narr! Das gestern Abend war doch der Wahnsinn gewesen, oder?"
"Atsche nicht. Du erlöst damit nur deine akute Geilheit."
"Eine himmelschreiende Schande wäre es, diese Gelegenheit auszulassen.", ließ das rote Männlein nicht locker.
"Der Preis sind Probleme, die du sicher nicht haben willst."
"Junge, wenn du das den anderen erzählst, bist du der absolute Star."
"Lass es sein! Sie hat es nicht verdient."
"Haltet die Klappe!", schrie Atsche und fuchtelte mit den Armen. Katrin war erschrocken.
"Ich habe doch nichts gesagt."
"Nein. Nein, natürlich nicht. Ich musste gerade nur an eine alte Geschichte denken. Die ganze Zeit hier im Tabak, da bekommt man ja eine Vollmeise. Ich glaube, es ist schon Mittagspause. Lass uns gehen."
Atsche konnte das nicht. Katrin war ihm sympathisch und genau darin lag das Problem - er wollte ihre Hoffnungen nicht mehren und vor allem wollte er keine Beziehung. Und es sollten in den nächsten Jahren viele ähnliche Situationen folgen: Immer, wenn er merkte, dass ein Mädel ihn mochte, konnte er keinen Sex mehr mit ihr haben. Er wollte ihnen nicht wehtun, auch wenn ihm das bei seinem späteren Materialverbrauch, wie Hecki es nannte, kaum jemand abnahm.
Was blieb von der Geschichte mit Katrin, war ein gewisser Stolz auf diese seine erste echte körperliche Erfahrung mit dem anderen Geschlecht. Er beschloss, künftig alle Mädchen in ein kleines Notizbuch einzutragen. Und obwohl Katrin theoretisch seine zweite Intimpartnerin war, bekam sie die Nummer EINS, dick unterstrichen. Und nun, nachdem der Knoten endlich geplatzt war, hielt die Uni von Neustadt, was Atsche sich versprochen und was Hecki ihm prophezeit hatte. Fast wöchentlich zelebrierte er ein oder zwei neue Eintragungen. Doch schon im Folgejahr kam ihm das Büchlein abhanden und er verlor die Übersicht.
7. Belgier
Die allmorgendliche Arbeitseinteilung zum Tabakpflücken stand an. Die Gewohnheit des Brigadiers, sich regelmäßig zu verspäten, war ihnen nur recht. Da kam einer von der LPG und fragte, wer mit Pferden umgehen könne. Sie brauchten jemanden, der im Dorf Kohlen mit dem Pferdegespann ausfährt. Atsche meldete sich sofort, ohne zu überlegen und ohne zu wissen, was ihn erwarten würde. Alles war besser als dieser Dritte-Welt-Job im Tabak. Dass er mit Pferden umzugehen verstand, war reichlich übertrieben. Als Kind und "Indianer" hat er oft die Kaltblüter auf der Wiese hinter ihrem Haus in Schnelleben mit Birnen gefüttert und sich dabei vorgestellt, als Tokei-ihto über die Prärie zu reiten. Nur einmal hatte er seinem Vater beim Einspannen der schweren Kaltblüter mit Kummet-Geschirr zugesehen. Das war's dann aber schon mit Atsches Kenntnissen über diese Haferfresser.
Und dann war da noch die alte Geschichte mit Lazi:
Es war ein schneereicher Winter, schon seit Wochen lag hoher Pulverschnee, der durch den steifen Wind meterhohe Wehen gebildet hatte. Hasen, Rehe, Fasanen - alles Wild litt Not. In Wald und Feld war mit dem Auto nicht mehr durchzukommen. So bekamen die drei jungen Burschen Atsche, Bube und Lazi von den Jägern des Ortes den Auftrag, ein paar Zentner Rüben für die Hasen in der Feldmark zu verteilen. Das Volksgut stellte dafür einen der Kaltblüter zur Verfügung.
Die Jungs spannten den Wallach Max vor eine Schleufe. Das ist ein flacher, primitiver Schlitten aus Holzbohlen, der normalerweise zum Mistfahren verwendet wird, und am ehesten an eine übergewichtige Holzpalette erinnert. Da Deichsel oder Schere fehlen, kann das Ross selbst nicht bremsen. Am Nachmittag hatten sie schon den Großteil des Futters verteilt. Bube führte die Zügel und ging meist neben dem Gefährt. Lazi saß vorn auf der Schleufe auf einem Strohballen, Atsche dahinter auf den Rübensäcken. Auf einem Hügel legten sie aus einem wichtigen Grunde eine Pause ein: Bube musste pinkeln und legte die Zügel beiseite. Noch beim Strullern erzählte er laut und mit der freien Hand gestikulierend eine Geschichte, sie lachten sich halb kaputt. Und da passierte etwas, das man von einem Kaltblüter eher nicht erwartet: Eine ihrer wilden Bewegungen hat das Pferd derart erschreckt, das es scheute. Max ruckte einmal kurz an - und ging ohne weitere Verhandlungen durch.
Lazi war durch den ersten Ruck nach vorn neben das Zugscheid gefallen und beim Start der wilden Fahrt geriet sein rechtes Bein unter die Schleufe, während das linke Bein noch auf der Schleufe lag. Atsche hatte sich irgendwie halten können und flach auf den Bauch in Fahrtrichtung auf die Schleufe gelegt. Was sie nicht sehen konnten: Hinter ihnen blieb Bube, seine Nudel im kalten Wind, verblüfft stehen und rief immer nur "Brrr, Brrr, Maxe.", wenngleich ohne Effekt.
Der Gaul raste kopflos bergab. Lazi schrie, als ginge es um sein Leben, womit er nicht ganz unrecht hatte. Die Hufe des Wallachs flogen immer dicht an seinem Kopf vorbei. Hätte ihn nur ein Hufschlag des knapp tausend Kilo schweren Tieres getroffen, wäre es mit ihm vorbei gewesen.
Der Junge zappelte hin und her und registrierte in seiner Panik die fliegenden Hufe nicht. Nur dem hohen Schnee war es zu verdanken, dass sein Bein unter der Schleufe nicht zermalmt wurde. Zum Glück jagten sie auf einem glatten Ackeruntergrund dahin, unter ihnen war Weizen bestellt. Ein gepflügter Acker wäre bei dem Frost wie eine Steinmühle für Lazis Bein gewesen. Es grenzte schon an ein Wunder, dass sich Atsche in voller Fahrt auf dem flachen Gefährt halten konnte. Er krallte sich an der vorderen Kante der Schleufe fest und zog sich zum Zugscheid vor. Die ledernen Zügel hatten sich dort verheddert und er versuchte mit einer Hand, ein freies Ende zu erwischen, während ihm der von den Hufen emporgeschleuderte Schnee ins Gesicht stob.
Der Gaul war schon einige hundert Meter mit ihnen galoppiert. Bis jetzt war alles gut gegangen, wenn man das in einer solchen Situation so sagen darf. Aber der Wallach rannte immer weiter bergab auf einen tiefen Graben zu. Der Graben war mit Schnee so zugeweht, dass er nicht mehr als solcher zu erkennen war. Nur ein paar Holunderbüsche markierten seinen Verlauf. Der Wallach Max war wohl lange nicht hier gewesen, er wusste das nicht und hielt unverändert auf den Graben zu. Lazis weit aufgerissene Augen glichen denen eines Wahnsinnigen. Er schrie immer: "Mach doch was! Mach doch was!". Da endlich bekam Atsche in voller Fahrt ein Ende der Leine zu fassen und zog daran gerade mit so viel Kraft, das er nicht selbst zu Lazi vornüberfiel. Er brüllte das Tier an: "Brrr, brrr". Max, dem er den Kopf mit der Leine zur Seite gezogen hatte, ging in eine leichte Kurve und einen Steinwurf vor dem Graben kam er endlich Schweiß schäumend zum Stehen. Alles gut.
Das waren sie also, Atsches Erfahrungen mit Pferden: nicht viel, aber immer noch erheblich mehr als vom Rest der Gruppe zusammengenommen. Somit war er DER Experte, alle anderen hatten noch nie ein Pferd von Nahem gesehen. Wer nicht vom Dorf kam, kannte keine Pferde, Reitsport gab es nicht.
"Kannst du anspannen?", fragte der LPG-Bauer.
"Ja klar.", ein eingespieltes Gespann zu fahren, konnte so schwierig nicht sein, auch wenn Atsche es noch nie gemacht hatte.
"Welches Geschirr?"
"Kummet."
"Du meinst 'Kummt'?"
"Bei uns sprechen sie Platt, da heißt es eben 'Kummet'."
"Ach so. Na prima, die meisten kennen nur Sielengeschirr.", davon hatte Atsche nun wieder noch nie etwas gehört.
"Und bist du schonmal ein Gespann gefahren?"
"Beides: einzeln und Zweispänner.", Richard, Richard, soll man denn lügen? Aber um dem Tabakpflücken zu entrinnen, war ihm jedes Mittel recht. Der Mann setzte ab sofort absolutes Vertrauen in Atsche.
"Gut. Such dir noch zwei Leute aus. Dort hinten ist der Stall. Du nimmst die beiden Belgier Rotschimmel. Der Wagen für die Kohlen steht da vorne. Dann kommst du mit dem Wagen vor zur Verladung. Macht's gut, Jungs.", und weg war er.
Yippie, geschafft! Atsche war raus aus dem Tabaktrott. Jeder hoffte, dass er ihn als Gehilfen aussuchen würde, jeder wollte jetzt sein Freund sein. Die Rotschimmel waren im Stall nicht schwer zu finden, eine Stute und ein Wallach. An den Boxen standen die Namen der beiden: