Die drei frischgebackenen Kohlefahrer kletterten auf den Kutschbock, Atsche nahm die Zügel in die Hand, endlich konnte es losgehen. Die Befehle waren klar: "Hüa" hieß gehen, "Brrrr" hieß anhalten. Er löste die Bremse und ließ frohgemut ein "Hüa" vernehmen. Hätte er einen Hut aufgehabt, er hätte ihn fröhlich dazu geschwenkt. Die beiden Gäule teilten Atsches Aufbruchstimmung nicht, schüttelten nur mit dem Kopf, um Fliegen abzuwehren, und taten, als hätten sie nichts gehört. Ein zweites "Hüa" und ein drittes verhallten ebenso ungehört. Er schnellte die Leinen auf und ab, dass sie den Rössern auf den Rücken klatschten. Doch diese warfen nur widerwillig mit dem Kopf auf.
Der Fall war klar: Rosa und Hans verstanden kein Deutsch - logisch, waren ja Belgier. Nach "Hopp" und "Hoppa", "Hopp, hopp" und einigen anderen Varianten setzten sich seine neuen belgischen Freunde überraschend in Bewegung, nachdem sie ein kurzes "Hou" von ihm gehört hatten. Nochmal Yippie! Jetzt hatte Atsche alles im Griff.
Nach etwa hundert Metern kam die Verladestelle für die Kohlen, vor der er den Wagen haargenau zum Stehen bringen musste. Die Leute, die ihnen die zu verladenden Kohlesäcke rausgebracht hatten, standen mit verschränkten Armen, die Mützen in den Nacken geschoben, wartend auf der Rampe. Als das Gespann etwa fünf Meter vor der Rampe war, zog Atsche die Zügel an und ließ ein lautes "Brrrr" vernehmen. Hans und Rosa trotteten unbeeindruckt weiter und so fuhr ihr Gespann in aller Seelenruhe an der Rampe und den staunenden Bauern vorbei.
"Wir haben im Stall noch was vergessen, kommen gleich wieder.", rief Atsche zur Entschuldigung. Scheiß Gäule! Scheiß Belgier! Jetzt drehten sie so lange Runden auf dem großen Hof, bis sie das "Sesam-öffne-dich" für diese sturen, belgischen Pferdeohren mit brute-force geknackt hatten. Ein langgezogenes "Hoooooo" war das Zauberwort für Halt und der Wagen stand. Ein kurzes "Hou" und sie fuhren, "Hoooooo" stehen, "Hou" gehen. So, genug jetzt, das klappte. Neuer Versuch mit der Rampe: Fünf Meter davor zog Atsche wieder die Zügel an, sagte den Geheimcode "Hoooooo" und das Gespann machte eine Punktlandung.
"Das machst du aber nicht das erste Mal.", sagte einer von der Rampe. Der Mann hatte recht: die Übungen eben auf dem Hof eingeschlossen - das dritte Mal.
Von nun an hatten sie ein schönes Leben: Derweil die anderen im Tabak buckelten, fuhren sie den Rest der Zeit mit dem Pferdegespann umher. Morgens Hans und Rosa einspannen, losfahren. Nachmittags Pferde ausspannen, Geschirr abnehmen, putzen, füttern. Schöner Tag. Sie belieferten den ganzen Ort mit Kohle-Briketts. Ein Gespann ist so langsam, dass man die meiste Zeit auf dem Bock mit Nichtstun verbringt. Das bisschen Kohle laden und den Leuten in den Keller tragen - das war doch ein Klacks.
8. Ein Zimmer mit Raúl
Atsche war weder ignorant noch eingebildet - weit davon entfernt, ein Überflieger zu sein, aber gewieft genug, um jeder Art von Verpflichtung aus dem Wege zu gehen. Vorlesungen kannte er nur vom Hörensagen und während der winterlichen Jagdsaison ließ er das Studium gänzlich ruhen. Für die paar Prüfungen reichte es vorerst. Und so hatte er das, was er am liebsten hatte: Freizeit. Was sich ein Playboy für Geld erkauft, war für Atsche umsonst: Feiern, hübsche Mädchen, Sport, Kultur und viele Freunde. Kurzum: dolce vita. Für sich selbst stellte er nur eine einzige Regel auf: nie zweimal mit der gleichen Frau zu schlafen.
Sein simpel genialer Plan stieß jedoch gleich am Anfang auf ein Hindernis, das er nicht hatte voraussehen können: seine ihm wahllos zugeteilten Mitbewohner. Beide keine üblen Kerle, nein, auf ihre Art nicht uninteressant. Aber Atsches Anspruch an das Studentenleben, namentlich an Zeiteinteilung, Pflichterfüllung und Freizeitgestaltung stand in diametralem Gegensatz zu deren Gesinnung. Gleich bei der ersten Studentin, die er nachts in ihrem Beisein penetriert hatte, veranstalteten sie ein Riesentheater. Die nächste, eine große schlanke Rothaarige, verführte er in Ermangelung anderer Optionen auf dem kalten Betonfußboden im Kellerflur. Nachdem er sich dabei Knie und Ellenbogen aufgescheuert hatte, stand für ihn fest: Das durfte auf keinen Fall zum Dauerzustand werden.
Doch Rettung nahte mit schnellen Schritten: Als hätte einer der Schreibtischtäter Atsches stille Wehklagen erhört, bot man ihm an, mit einem Peruaner zusammenzuziehen. Diese Offerte kam ihm mehr als gelegen, hatte er dadurch das Privileg, das Zimmer mit nur einem Mitbewohner teilen zu müssen – im Ernstfall faire Kampfbedingungen. Ohne zweimal nachzudenken, sagte er zu. Der Sinn dieser administrativen Maßnahme bestand darin, dem armen Ausländer einen deutschen Paten hilfreich zur Seite zu stellen. Leute, Leute: den Bock zum Gärtner gemacht.
Sein Schützling hieß Raúl, vom Wesen her ein ruhiger Vertreter, äußerlich ein cholo[2], wie er im Buche steht: sture schwarze Haare, klein von Wuchs, Hakennase, ausgeprägte Jochbeine, eng stehende Augen und einen bräunlichen Teint. Trotz seines zweifelsfrei indianischen Aussehens hatte er einen urspanischen Nachnamen, ein Detail, das in seiner Heimat nicht unbedeutend war: Mit einem Ketschua-Nachnamen wie Huancahuari landete die Bewerbung für einen Job unbesehen ganz unten im Stapel.
"Sag mal Raúl, wie bist du eigentlich hierhergekommen?", Atsche stellte die Gitarre an die Wand und warf den Rucksack auf sein zukünftiges Bett, es gab ein klirrendes Geräusch. "Mit dem Flugzeug, schon klar. Die Frage ist: Weshalb und wie?"
"Ich wollte studieren."
"Ausgerechnet in der DDR? Ich meine, keine Ahnung, wie es bei euch aussieht, aber ihr seid doch auch so was wie ein westliches Land."
"Das kann man so nicht vergleichen. Ein Studium hätte ich mir zu Hause nie leisten können.", es war kaum zu übersehen, dass Raúl aus ärmlichen Verhältnissen stammte. Wenn man ihn sah, dann immer in demselben schäbigen Anzug und mit derselben abgewetzten Ledertasche.
"Also, da geht man in Lima locker-flockig zu unserer Botschaft und sagt: 'Hallo Freunde des peruanischen Walzers, ich habe kein Geld. Bezahlt ihr mir ein Studium?'."
"Umgekehrt. Eure Leute haben mir das angeboten, weil ich in einer linken Jugendorganisation war."
"Verstehe: internationale Solidarität und so. Wir unterstützen unsere linken Freunde in den Entwicklungsländern. Das finde ich gut."
"Für mich war das eine einmalige Chance.", nickte Raúl zufrieden. Atsche wühlte in seinem Rucksack und zauberte zwei Flaschen Bier hervor.
"Hier Raúl, möchtest du eins?"
"Ui, ja. Danke, ich danke dir.", Raúl nahm die Flasche mit beiden Händen und machte mit angedeuteten devoten Verbeugungen ein paar Schritte zurück.
"Prost Raúl."
"Atsche, salud!", nachdem jeder einen Schluck genommen hatte, räusperte sich Raúl. Ihm schien etwas Unangenehmes auf der Zunge zu liegen.
"Nun, das mit den Freunden stimmt nur zum Teil."
"Wie, was jetzt? Links ist links."
"Wir sehen das etwas anders. Marxismus ist für uns keine Lösung, die meisten sind arme Bauern. Die Landbevölkerung steht für uns im Mittelpunkt. Wir brauchen einen Sozialismus, der speziell an unsere Bedingungen angepasst ist: 'Sozialismus in einem Land'."
"Mensch Raúl, du alter Inka: Das ist Maoismus pur."
"Ja und? Der Marxismus-Leninismus kann uns keine Antworten geben."
"Aber was ist mit der führenden Rolle des Proletariats?"
"Überlege doch mal: Neun Bauern sollen sich von einem Proleten führen lassen?"
"Hm, ich muss zugeben, an der Stelle hat die Theorie noch gewisse Schwächen.",