Als wir bezahlten war ich erleichtert. Susi hatte mich nicht einmal gefragt wie es mir ging oder mich irgendetwas wegen Markus gefragt. Dafür war ich ihr unendlich dankbar.
Bei der U-Bahn verabschiedeten wir uns voneinander mit einer kurzen Umarmung.
Auch heute würde ich die Umzugskartons nicht ausräumen.
Vier
Montags aufzuwachen ohne Markus‘ verschlafenes Gesicht in der Küche zu sehen war scheiße. Und zwar so richtig.
Normalerweise stand er schon mit seiner dritten Tasse Kaffee in der Küche, die Haare standen ihm zu allen Himmelsrichtungen und unter seinen Augen hatten sich dicke Ringe breit gemacht, weil er wieder die halbe Nacht gelesen hatte.
Jetzt allein in meiner Küche mit einer Tasse Kaffee zu stehen war befremdlich.
Und schmerzhaft.
Ich musste mich zusammenreißen, damit ich ja nicht wieder anfing zu weinen. Die halbe Tasse schüttelte ich auch in die Spüle und ging anschließend duschen. Meine erste Vorlesung würde erst um zehn beginnen, wodurch ich mehr als genug Zeit hätte.
Am liebsten würde ich mich sowieso wieder in meinem Bett verkriechen, aber nachdem ich offenbar jede Vorlesung gemeinsam mit Susi hatte, war das keine Option. Sie würde meine Mum anrufen, wenn ich nicht kam, und diese würde den nächstbesten Geistlichen zu mir schicken.
Darauf konnte ich wirklich gut verzichten.
Also machte ich mich für die Uni fertig, auch wenn es weh tat und mir schwerfiel. Als ich meine Tasche für die Uni nahm, fiel mein Blick auf das Buch, das immer noch am Boden im Eingangsbereich lag.
Ich wollte es doch zurückbringen.
Als ich es hochhob, wunderte ich mich, dass mich die Polizei gar nicht aufgesucht hatte. Offenbar hatte Winter doch so etwas wie Mitleid mit mir gehabt. Unfassbar, hätte ich ihm gar nicht zugetraut gehabt.
Damit er letzten Endes nicht doch die Cops rief, nahm ich das Buch und steckte einen Zettel hinein, auf den ich in Großbuchstaben „Tut mir leid“ schrieb. Damit sollte wohl klar sein, dass ich es nicht klauen wollte.
Als ich mich am Weg zur Straßenbahn machte, kam ich auch an dem Buchladen vorbei. Ich ging über die Straße und hoffte dabei inständig, dass das Buch nicht zu groß war für den Postschlitz.
Als ich vor dem Buchladen ankam, erkannte ich, dass er bereits geöffnet hatte. Klar, es war schon halb zehn, so gut wie alle Läden waren bereits geöffnet.
Sollte ich also reingehen und mein Missgeschick persönlich begründen?
Nein, ich wollte nicht mit Menschen sprechen. Ich wollte nicht erklären, warum ich ein verdammtes Buch ausversehen geklaut hatte. Also öffnete ich den Postschlitz und wollte das Buch gerade hineinwerfen, da ging die Tür des Ladens auf und niemand anderes als Adam Winter trat heraus.
Als er mich erkannte, erschien sofort ein mitleidiger Blick auf seinem Gesicht. Na wunderbar – das war mir ja noch weniger lieb, als wenn er einfach idiotische Kommentare losließ.
Dann glitt sein Blick zu meiner Hand, die immer noch das Buch hielt und direkt über dem Postschlitz hing. Seine Brauen zogen sich hoch und er kam ein paar Schritte näher: „Was ist dein Plan? Willst du ein Buch wegschicken?“
„Nein, zurückgeben.“, brummte ich. Aber bevor ich es loslassen konnte, schloss sich Winters Hand um meine und zog sie vom Postschlitz weg. Dort wo mich seine Hand berührt hatte, breitete sich eine angenehme Wärme aus. Schnell schüttelte ich den Gedanken ab und sah ihn verwirrt an: „Warum willst du es zurückgeben?“
„Ich habe nicht dafür bezahlt.“, sagte ich, als würde das alles erklären. Es sollte auch eigentlich alles erklären.
„Hab‘ ich für dich übernommen. Keine Umstände.“
Verwirrt sah ich zu Winter hoch. Da ich sehr klein war und er sehr groß, musste ich meinen Kopf fast in den Nacken legen: „Was?“
„Ich habe es für dich bezahlt. Du brauchst dir keinen Kopf darüber machen.“
„Warum tust du das?“, fragte ich schockiert: „Warte, ich gebe dir das Geld.“, ich wühlte schon in meiner Tasche herum, um meine Geldbörse herauszufischen, aber Winters Hand legte sich schon wieder auf meinen Arm.
„Vergiss es. Sieh es als Geschenk an. Keine große Sache. Außerdem bekomme ich Angestelltenrabatt, dadurch habe ich so gut wie gar nichts dafür bezahlt.“
Mit großen Augen sah ich zu ihm hoch. War das sein Ernst? Warum zum Teufel bezahlte er ein Buch für mich?
Da ging mir ein Licht auf.
Dieser Mistkerl.
„Oh, du dachtest das arme, bemitleidenswerte Mädchen braucht deine Hilfe. Alles klar. Ich brauche deine Almosen nicht, Winter. Hier nimm dein Buch. Immerhin gehört es vom Gesetz her dir.“
Adam verdrehte die Augen – eine Spur zu theatralisch, wenn man mich fragt: „Jetzt krieg dich mal wieder ein, du Giftspritze. Das waren keine Almosen. Aber ich wollte meiner Chefin nicht erklären, dass ich zugelassen hab, dass mir ein heulendes Mädel ein Buch abluchst. Also habe ich es einfach bezahlt. Und du kannst es behalten – ist nicht ganz mein Stil.“, er deutete auf den Deckel. Da fiel mir ein, dass ich mir das Buch noch gar nicht richtig angesehen habe, seitdem ich damit geflüchtet war. Auf dem Titel küssten sich zwei Menschen und hielten einander eng umschlungen fest. Eindeutig eine Liebesromanze.
„Ich ...“, ich war sprachlos. Was sollte ich darauf sagen? Ich wusste nicht mal wirklich, warum Winter nicht einfach die Polizei gerufen hatte, anstatt das Buch für mich zu zahlen.
„Sag einfach ‚Danke, Adam. Du hast mir den Arsch gerettet. Das werde ich dir nie vergessen.‘“, den Teil, den offenbar ich sagen sollte, gab er in einer übertrieben hohen Stimme wieder.
„Danke.“, brummte ich aber nur und packte das Buch in meine Tasche.
„Na, schau. Geht doch.“, Adam grinste und sah auf seine Uhr am Handgelenk: „Ich muss los zur Uni. Ich habe um zehn eine Vorlesung.“
Oh Mann, wären wir auch in diesem Semester wieder in denselben Veranstaltungen?
„Ich auch.“, murmelte ich und machte mich auf den Weg zur Straßenbahn.
„Studierst du Kommunikationswissenschaften weiter?“, fragte Winter. Er klang ehrlich interessiert.
„Ja.“
„Wie machst du das mit den Lehrveranstaltungen des letzten Semesters? Machst du die in diesem?“
„Nein.“, warum musste er mich jetzt darüber ausfragen? Warum musste ich ihm denn unbedingt begegnen.
„Ich weiß ja nicht, wo du das letzte Semester über warst, aber offenbar ist dir in der Zeit der Gesprächsstoff ausgegangen.“, neckte mich Winter.
Konnte er nicht einfach die Klappe halten? Normalerweise würde ich so etwas nicht denken. Dafür war ich viel zu gut erzogen worden. Aber er brachte mich einfach immer auf die Palme.
„Geht dich nichts an.“, antwortete ich nur.
Adams Blick glitt wieder zu mir, als wir an der Haltestelle der Straßenbahn stehen blieben. Er musterte mich eine Zeit lang, dann schien ihm etwas einzufallen und er sah sich um: „Was ist mit deinem Bruder eigentlich? Der war auch die letzten sechs Monate nicht da. Hat er abgebrochen oder habt ihr euch voneinander abgenagt und besucht jetzt unterschiedliche Vorlesungen?“
Am liebsten würde ich ihm eine klatschen. Was gut war, denn wenn ich nicht so eine Wut in mir empfunden hätte, dann hätte ich wahrscheinlich wieder zum Heulen begonnen. Und ein zweites Mal würde ich mir vor ihm sicher nicht diese Blöße geben.
„Er kommt