Bitte, gib nicht auf.. Denise Docekal. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Denise Docekal
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752923889
Скачать книгу
hielten und ich wollte sie nicht schlecht vor ihm dastehen lassen.

      „Wir denken, dass du wieder an die Uni gehen solltest.“, platzte meine Mutter heraus. Obwohl ich damit gerechnet hatte, war es doch nochmal was anderes, es aus ihrem Mund zu hören. Ich sollte wieder zurück? An den Ort, an dem ich mit Markus am glücklichsten gewesen war?

      „Wir wollen nur dein Bestes.“, sprach nun mein Vater weiter. Ein großer, aber eher schmal gebauter Mann mit lichtem Haar. Ein typischer Vater eben: „Und wir wollen dir helfen, dass du dich wieder besser fühlst.“

      Mich besser fühlen.

      Diesmal hätte ich am liebsten verächtlich aufgelacht.

      Niemals wieder würde ich mich „besser“ fühlen können. Nicht nach dem, was vor sechs Monaten passiert war.

      Nun übernahm wieder der Pfarrer das Wort: „Deine Eltern haben mit der Uni geredet, Mary. Du kannst nächste Woche wieder in die Kurse einsteigen. Natürlich wird dein Abschluss nun nach hinten verschoben, weil du das letzte Semester verpasst hast, aber das wird kein Weltuntergang sein. Außerdem habe ich mit dem Pfarrer gesprochen, in dessen Bezirk du in Wien wohnen wirst. Er hat mir versprochen, dich im Auge zu behalten. Sollte es dir schlecht gehen, kannst du jederzeit für geistigen Beistand zu ihm kommen.“

      Geistiger Beistand. Geistiger Beistand. Geistiger Beistand.

      Immer und immer wieder wiederholte ich diese Worte in meinem Kopf. Am liebsten hätte ich laut geschrien. Wo war Markus‘ geistiger Beistand gewesen?

      „Hast du uns verstanden, Mary?“, fragte meine Mutter und ich zuckte kurz unter ihrer strengen Stimme zusammen. Selbst nach der Tragödie, die unsere Familie heimgesucht hatte, hatte sie ihre Strenge nicht verloren. Es schien mir, als würden sie und mein Vater einfach ganz normal weitermachen. Als wäre nie etwas passiert.

      Ich nickte nur. Mich gegen sie zur Wehr zu setzen hätte doch sowieso keinen Sinn. Es wäre dasselbe, wie wenn sich ein Kaninchen mit einem ausgewachsenen Löwen anlegen wollte. Außerdem war ich viel zu müde, um mir jetzt eine Diskussion mit ihnen zu liefern. Ich war erschöpft, obwohl ich den ganzen Tag über im Bett lag. Aber nachts fand ich einfach keinen Schlaf. Jedes Mal, wenn ich meine Augen schloss, hatte ich sein Gesicht vor mir.

      „Wunderbar.“, der Pfarrer klatschte freudig in seine Hände: „Deine Eltern haben dir schon eine neue Wohnung in Wien gemietet. Ganz in der Nähe der Uni. Ein wirklich netter Bezirk. Auch zur Kirche gehst du nur wenige Minuten zu Fuß.“

      Na großartig.

      Hoffentlich würde mir dieser Pfarrer keine Hausbesuche abstatten. Sonst würde der Name meiner Familie wahrscheinlich auf ewig im verbotenen Buch der Kirche stehen.

      „Wir haben uns gedacht, dass du am Samstag hinfahren könntest, damit du dich vor Montag noch einrichten kannst. Wir haben die Möbel aus der alten Wohnung bereits hingebracht und die Schlüssel liegen in deinem Zimmer.“, Dad lächelte mich einfühlsam an.

      Offenbar konnten die beiden es gar nicht abwarten, mich endlich loszuwerden. Selbst bei diesem Gedanken, konnte ich nicht wirklich viel empfinden. Es war eigenartig. Als ob ich mein Herz vor allen zukünftigen Gefühle verschlossen hätte. Als ob ich ausgehöhlt wäre.

      „Mary, hast du deinen Vater verstanden?“, wieder die strenge Stimme meiner Mutter.

      Ich nickte nur, sah aber immer noch nicht hoch. Ich konnte einfach nicht in ihre Augen blicken.

      „Wenn wir das geklärt hätten.“, der Pfarrer erhob sich aus seinem Stuhl in der Küche meiner Eltern: „Meine Telefonnummer hast du, Mary. Melde dich jederzeit bei mir.“, mit diesem Satz ließ er sich von meinen Eltern zur Tür begleiten. Ich nahm die Chance wahr und ging hoch in mein Zimmer.

      In unser Zimmer.

      Markus und ich hatten uns, seitdem ich denken konnte, immer ein Zimmer geteilt. Obwohl das Haus groß genug wäre, dass jeder sein eigenes Zimmer hat, hatten wir uns nachts immer in das des Anderen geschlichen, wodurch meine Eltern irgendwann eine Wand eingerissen hatten und wir ein großes gemeinsames Zimmer bekommen hatten.

      Jetzt wirkte es leer, obwohl mein ganzes Zeug herumstand. Der Großteil befand sich immer noch in den Umzugskartons, in denen meine Eltern meine Besitztümer nach weniger als zwei Jahren zurück in ihr Haus gebracht hatten.

      Ich setzte mich auf mein ungemachtes Bett. Im Raum miefte es ein wenig, da ich fast nie lüftete, und überall lagen Krümel von Essensresten herum. Neben dem Bett stapelten sich die Pizzakartons – hin und wieder nutzte ich sie als Nachttisch – und die Vorhänge waren fast den ganzen Tag über zugezogen, so wie auch jetzt gerade.

      Mein Blick glitt auf das zweite Bett am anderen Ende des Raums. Es war, als ob dieser Raum aus zwei verschiedenen Welten bestünde Die eine Hälfte war ein einziges Chaos und – ehrlicherweise – auch ekelerregend. Die andere Seite war super sauber und geordnet. Die Bettwäsche hatte keine einzige Falte, die Hefte und Ordner waren säuberlich am Schreibtisch sortiert und im Wäschekorb war nichtmal eine dreckige Socke.

      Bisher hatte ich mich noch nicht getraut hinüber zu gehen. Obwohl mich und die andere Hälfte des Zimmers keine vier Meter trennten, brachte ich es einfach nicht über mich, in diese selige Ruhe einzutreten. Wenn ich da rüber ging, dann würde alles echt werden. Dann konnte ich es nicht mehr leugnen. Solang ich hier – auf meiner sicheren Seite des Raumes – bleiben würde, konnte ich so viel leugnen wie ich wollte. Auch wenn meine Therapeutin meinte, dass das nicht gesund wäre.

      Ich riss meinen Blick von dem Bett los und ließ ihn zu der kleinen Pillendose auf meinem Pizzakartonturm gleiten. Die sollte ich eigentlich nehmen.

      Antidepressiva.

      Nachdem es mir Monate nach dem Tod meines Bruders immer noch nicht besser gegangen war, hatten mich meine Eltern zu einer Seelenklempnerin geschleift und diese hatte mir nach der ersten Sitzungen diese Tabletten verschrieben.

      Ich mochte sie nicht.

      Also die Tabletten.

      Die Therapeutin aber auch nicht.

      Die Tabletten machten mich nicht glücklich oder einfach nur weniger traurig. Ich fühlte mich durch sie einfach nur betäubt.

      Und obwohl dieses taube Gefühl irgendwie angenehm war, wollte ich den Schmerz nicht ausschließen. Das hatte Markus nicht verdient.

      Er verdiente es, dass man um ihn trauerte.

      Und nachdem meine Eltern das nach wenigen Monaten schon wieder aufgegeben hatten, musste ich es umso stärker tun.

      Vielleicht war es ja doch gut, dass ich zurück auf die Uni ging. Weg von meinen Eltern. Ich liebte sie natürlich, immerhin waren sie meine Eltern. Sie waren auch grundsätzlich wirklich gute Menschen. Nur leider versuchten sie mir die ganze Zeit zu helfen oder mir zu sagen, wie ich mich fühlen sollte. Nachdem das nichts mehr genutzt hatte, hatten sie angefangen, mich jeden Sonntag nach dem Gottesdienst zu unserem Pfarrer zu zerren, damit dieser ein paar Worte mit mir wechseln konnte. Er hat mir dann jedes Mal zwanzig Minuten erzählt, was für ein wunderbarer Mensch mein Bruder gewesen sei. Und jedes Mal musste ich mich zurückhalten, ihm nicht ins Gesicht zu springen.

      Wer war es denn gewesen, der meinen Bruder in ein „Umerziehungscamp“ schicken wollte, wegen seiner „Neigungen“?

      Danach war mein Blick immer zu meinen Eltern gewandert, die nickend alles untermalten, was der Pfarrer sagte. Und auch bei ihnen hätte ich schreien können.

      Wer war es denn gewesen, die Markus nicht dafür akzeptieren konnten, wer er war? Wer war es denn gewesen, die ihm immer wieder erklärt hatten, dass das alles doch gar nicht stimmte und nur eine Phase wäre? Wer verdammt nochmal war es denn gewesen, die ihm sagten, er würde in der Hölle schmoren, wenn er einen Mann küssen würde?

      Vielleicht war es ja wirklich gut, dass ich hier verschwinden würde.

      Zwei

      Allein saß ich in meinem neuen winzigen Apartment. Das erste Mal in meinem Leben, dass ich tatsächlich allein lebte.