»Willst du wat zu futtern, Elias?«, fragte ihn seine Tante und drehte sich zu ihm um. Er schüttelte den Kopf. Sie seufzte.
»Mir fragst du nüscht?«, sagte sein Onkel.
»Dir brauch ick nüscht zu fragen«, gab sie zur Antwort und reichte ihm ein Sandwich, das er brummend entgegennahm.
»Dit scheint wat Größeret zu sin«, sagte er kauend, als sie die Sirenen von mehreren Notarzt- und Krankenwagen näherkommen hörten. Elias schaute gerade aus dem Seitenfenster, als ein Sanitätswagen sich vorsichtig an ihnen vorbeischob. Schlagartig fiel ihm ein, was er am Morgen in der Therme beobachtet hatte. Etwas Sonderbares war dort geschehen. Erst hatte er einen unheimlichen Schrei gehört und kurz darauf noch einen. Irgendwo drinnen in der Therme musste etwas Schlimmes passiert sein. Bald danach hatten zwei Männer in Sanitätswesten auf einer Trage einen Menschen transportiert. Der lag unter einer dunklen Decke. Sie waren vorher mit ihrem Auto ohne Sirene bis an die Stelle gefahren, wo dichte Büsche auf einem grasbewachsenen Erdwall die Sicht auf das Gelände um die Therme versperrten. Elias hatte sich dort auf der Flucht vor seinem Onkel versteckt. Hierher verirrten sich keine Erwachsenen. Er hatte von seinem Versteck aus zugesehen, wie die Männer mit ihren leuchtend orangefarbenen Westen ausgestiegen waren, die hintere Tür geöffnet und die Trage mit dem Mann herausgerollt hatten. Er hatte den Kopf des Mannes erkennen können. Er war blond und er lag bewusstlos unter seiner Decke. So war es Elias wenigstens vorgekommen. Die Männer waren groß und stark gewesen und sie waren rasch gelaufen. Dann hatte er sie kurz aus den Augen verloren, weil er in der anderen Richtung Ausschau nach seinem Onkel gehalten hatte. Dann hatte er sie um eine Ecke des Gebäudes kommen sehen. Sie mussten irgendwie den Zaun überwunden haben, der auf der äußeren Seite des Graswalls das Gelände begrenzte. Sie hatten geschwitzt und ihre Köpfe waren rot gewesen. Der Mann, den sie trugen, war dagegen so komisch weiß im Gesicht gewesen. Das hatte Elias erschreckt. Sie waren dicht an der Gebäudewand entlanggelaufen, ohne sich umzusehen. Dann waren sie in einer schmalen Mauernische verschwunden und Elias hatte sie für ein paar Minuten aus den Augen verloren. Wenig später, gerade als er sein Versteck hatte verlassen wollen, waren die zwei Männer wiederaufgetaucht, aber ohne den Bewusstlosen. Sie hatten es sehr eilig gehabt. Elias hatte sich gerade noch rechtzeitig ducken können. Sie waren mit der Trage, auf der die Decke lag, zu ihrem Auto gerannt. Elias hatte die Sekunden gezählt. Bei zweiundzwanzig war das Auto mit den beiden Männern davongefahren.
»Willst du wenigstens een Stück Kuchen?«, fragte ihn seine Tante und hielt ihm einen Pappteller mit einem Apfelkuchen hin.
»Lass ihn doch, wenn er nüscht will«, brummte sein Onkel, der das Stück schon für sich einkalkuliert hatte. Er hörte sich etwas freundlicher an. Daher riskierte es Elias, den Kuchen anzunehmen. Während er in den süßen, hellen Teig biss, versuchte er, nicht mehr an das weiße Gesicht des Mannes auf der Trage zu denken.
Melchior saß auf der Fensterbank in seinem Studierzimmer, wie er es nannte. Er saß immer irgendwie erhöht, wie Katzen es gerne tun. Von hier oben unter dem Dach konnte er über die Dächer der Nachbarvillen bis zu den Alpen blicken. Er hatte die Arme über dem Kopf verschränkt und beugte sich seitwärts nach beiden Seiten, um die Schultern zu dehnen.
»Lass dich nicht verrückt machen, Lu«, sagte Melchior, »Carla sieht doch immer alles kohlrabenschwarz. Im Kritisieren und Besserwissen ist sie die Queen of the Universe, das weißt du doch.« Lukas antwortete nicht. Er saß an Melchiors Schreibtisch und starrte angestrengt in dessen Laptop. »Die wird sich schon wieder einkriegen, mach dir keinen Stress deswegen. Spätestens …«
»Menschenskind, mir ist egal, ob sie sich einkriegt«, unterbrach ihn Lukas, »wenn sie nur die Klappe hält. Die kann uns in Teufels Küche bringen.«
»So, so, in Teufels Küche. Was ist denn das für eine Ausdrucksweise? Du redest ja wie die Geschäftsfreunde von meinem Dad.«
»Von mir aus. Die kann uns megamäßig Trouble machen, wenn das für dein Sprachzentrum kompatibler ist.«
»Okay, okay, Freund Lukas«, seufzte Melchior, »dann lass uns doch ein Palaver halten und überlegen, wie wir das Weib in Acht und Bann schlagen.« Lukas riss sich vom Bildschirm los.
»Du hast wirklich noch nicht geschnallt, wie kurz wir vorm Rauswurf stehen, was? Carla muss nur unseren ehrenwerten Professor Jung abpassen und ihm ein paar Sachen flüstern. Der wartet doch nur auf sowas. Glaub’s mir: Zwei, drei Worte von ihr und eine Woche später hat jeder von uns einen freundlichen Brief auf seinem Schreibtisch: ›Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, blablabla …‹ und raus bist du. Vier Jahre Plackerei für nix und wieder nix. Wie soll ich das meinem Vater beibringen? Für das Geld, das ihn mein Studium gekostet hat, hätte er schon längst seine Werkstatt modernisieren können. Seit Jahren wartet er darauf.«
»Ach komm jetzt, Lu …« Lukas klappte den Laptop zu. Sein Ton wurde merklich kühler.
»Nicht jeder hat so viel Kohle wie dein Dad, Melchior, schon vergessen? Es gibt tatsächlich Leute, die müssen jeden Tag arbeiten.« Melchior sprang von der Fensterbank und baute sich vor seinem Freund auf.
»Wenn ich eines satthabe, dann, dass mir ständig das Scheißgeld meines Vaters vorgeworfen wird.« Lukas wich zurück.
»Ich dachte, es wird dir nachgeworfen«, sagte er und versuchte zu grinsen. Melchior holte zum Schlag aus, zögerte kurz und grinste dann ebenfalls. Er gab Lukas einen eher symbolischen Kinnhaken.
»Jedenfalls werden wir nicht so schnell exmatrikuliert, Lu. Ganz so einfach geht das nicht.«
»Aber du vergisst den Schaden, der entstanden ist. Soweit ich gerade rausgefunden habe, ist der Besitzer der Therme ein harter Hund. So einer versteht keinen Spaß, mit dem kannst du nicht verhandeln.« Melchior zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Viel wichtiger ist doch die Frage: Was machen wir mit dem Video?«
»Wir mieten ein Schließfach bei Gringotts in London und lassen es von Harry Potter bewachen.«
»Wer ist Harry Potter?«
»Irgendein Kobold, glaub’ ich.«
»Zum Glück hört uns keiner zu«, meinte Melchior, »sonst könnte man noch auf den Gedanken kommen, wir wären nicht erwachsen.«
4. Kapitel
»Ein Spitzer, ein Küchenschwamm, ein Kieselstein, ein Ehering, der Größe nach zu urteilen vom Ehemann, vier Kinokarten, gültig für heute Abend für den Film ›Flammendes Inferno‹, das ist ein ziemlich alter Schinken, eine Packung Räuchertofu, ungeöffnet, was mich nicht wundert, ein Apothekerfläschchen mit Tabletten, zwei Herrenbadehosen mit zweifelhaftem Muster, eine Taschenlampe, sechs große Badetücher oder Saunatücher, eine Packung Zigaretten, Marke Gauloises, wusste gar nicht, dass es die noch gibt, eine Kondolenzkarte, mit Tinte geschrieben und daher komplett unleserlich, ein Einkaufszettel, mit Bleistift geschrieben, teilweise leserlich, ein Studentenausweis der psychologischen Fakultät an der LMU München, lautend auf Lukas Freun, eine Lupe, drei Sonnenbrillen, alle kaputt, sieben, nein acht Handys, unheimlich hinüber, ja – ich glaube, das wäre alles. Fehlt nur noch eine Angelrute und ein Eimer Holzkohlen.« Penny Stock holte tief Luft, nahm die Lupe und wog sie in der Hand. »Schon teilweise krass, was die Leute so alles mitnehmen, wenn sie in die Sauna gehen.« Sie befanden sich in Fischlis Büro. Vor ihr lag auf dem Metalltisch ausgebreitet das Sammelsurium an Gegenständen, die sie und ihre Assistenten aus dem Vitalbecken, dem Außenbecken und den Whirlpools gefischt hatten. Sie reichte Zweifel die akkurate Liste. Der junge Bademeister stand daneben und nickte.
»Sie würden sich wundern, was wir da schon alles gefunden haben.« Melzick und der Kommissar waren