»Oh, nur der Geschäftsleiter«, raunte der zurück. »Schilling heißt er und der andere ist sowas wie der oberste Bademeister hier, Fischli.«
»Wie bitte?«
»Das ist sein Name. Fischli, John Fischli. Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, ausgerechnet heute ins Paradies zu wollen?«
»Wollt’ ich ja gar nicht. Erzähl ich später.« Der junge Bademeister hielt immer noch Wache vor der Stollensauna. Zweifel konnte beobachten, wie er Schilling etwas ins Ohr flüsterte und dann die Glastür freigab.
»Stopp!«, rief Zweifel, als Schilling sie betreten wollte. »Ich will keinen Ärger mit der Spurensicherung. Niemand betritt die Sauna!« Schilling hob reflexhaft beide Hände, als würde er mit einer Waffe bedroht. »Sie waren hoffentlich auch nicht drin«, sagte Zweifel zu dem Jungen, der ihn mit großen Augen verwundert ansah.
»Natürlich war ich drin.«
»Er hat ihn ja entdeckt«, mischte sich Fischli ein.
»Ich hab aber sofort gesehen, dass da nichts mehr zu machen war.«
»Fußspuren haben wir jedenfalls keine hinterlassen«, meinte Fischli.
»Da wär’ ich mal nicht so sicher«, warf Melzick ein. Zweifel hatte inzwischen einen der dünnen Handschuhe angezogen, die er immer bei sich trug, und öffnete die Glastür, indem er sie ganz oben anfasste. Ein eigenartiger Geruch stieg ihnen in die Nase, eine Mischung aus nassem Laub, Moder und trockenem Holz. Melzick schaute ihm über die Schulter.
»Oh fuck«, stieß sie hervor, »der ist ja kaum so alt wie ich!«
»Nie wieder, dit sarick dir!« Fred schwitzte. Er saß hinter dem Steuer seines Wohnmobils. Johanna wartete stumm auf dem Beifahrersitz ab, bis sich das Unwetter gelegt hatte. Abgesehen davon war sie unglücklich, weil sie sich von ihrer alten Freundin nicht mehr hatte verabschieden können. Nicht einmal telefonisch. Fred war so Hals über Kopf losgefahren, nachdem Elias aufgetaucht war, dass sie gar keinen klaren Gedanken fassen konnte. Erst auf der Autobahn fiel ihr Katharina wieder ein, die sie am Tag zuvor so großzügig mit Kuchen bewirtet hatte, dass sogar Fred beim dritten Nachschlag abwinken musste. Als Johanna sie anrufen wollte, um ihr das Ganze zu erklären, merkte sie, dass ihr Handy weg war. In dem riesigen Durcheinander und in der überstürzten Eile musste sie es verloren haben. Fred wollte von einem eigenen Handy nichts wissen und Elias sollte nach ihrer Meinung von einem eigenen Handy noch nichts wissen. So blieb ihr also nichts Anderes übrig, als bis zur nächsten Raststätte zu warten, in der Hoffnung, dass Fred sich bis dahin beruhigt haben würde. Elias war in sein Buch vertieft. Es lag auf dem rückwärtigen Tisch zwischen seinen Ellenbogen. Sein blasses Gesicht hatte er in seine Fäuste gebettet. Fred saß der Schrecken in den Gliedern. Ursprünglich hatte er vorgehabt, in einem Rutsch nach Berlin zu fahren, wo er sich für den Rest des Urlaubs auf seinem Balkon erholen wollte. Doch jetzt beschloss er kurzerhand, auf dem nächsten Parkplatz eine Pause einzulegen. Das Zittern in seinen Händen war zu stark geworden. Was er genau mit seinem in regelmäßigen Abständen wiederholten »nie wieder« meinte, ließ er offen. Johanna war es ohnehin klar: Nie wieder Bayern, nie wieder Bad Wörishofen, nie wieder Therme, nie wieder Sauna. Der Junge hielt sich die Ohren zu. Er hatte etwas Anderes herausgehört: Nie wieder Elias.
»Ich hab euch gleich gesagt, dass es ganz großer Mist ist, was ihr da vorhabt!« Carla ließ Zornesfunken aus ihren dunklen Augen sprühen. »Wie kann man so naiv sein, so gotteserbärmlich naiv? Genauso gut könnt ihr eine Lawine lostreten und hoffen, dass Schneebälle unten ankommen!« Sie warf ihre schwarze Haarmähne mit der Hand wild zurück. Ihr Zorn war echt. Er war echt und mit Angst unterfüttert. Angst davor, was ihnen jetzt bevorstehen könnte.
»Jetzt mach mal halblang, Carla«, brummte Melchior, »es ist doch gut ausgegangen, außer den paar leichten Verletzungen. Dafür sind die Aufnahmen erstklassig.« Carla schnaubte vor Empörung und klatschte die Hände zusammen.
»Halt einfach die Klappe, Melchior«, fuhr ihn Lukas, der dritte im Bund, an. »Carla hat Recht. Wir haben einen Wahnsinnsdusel gehabt. Ich hätt’ mich nie darauf einlassen sollen.« Melchior schaute ihn spöttisch von der Seite an. Er saß auf der roten Mauer, die sein elterliches Anwesen großzügig einfasste. Lukas saß neben ihm, Carla tigerte vor den beiden auf und ab. Plötzlich schien ihr etwas einzufallen.
»Gib mal her«, sagte sie zu Melchior. Er reichte ihr wortlos und mit einem Schulterzucken sein Smartphone. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Gehweg und startete noch einmal das Video, das sie sich an diesem Tag bestimmt schon fünfmal angesehen hatte. Aus dem winzigen Lautsprecher kamen verzerrte Geräusche, eine Kakophonie aus Schreien, Rufen, Protesten, Schlägen aufs Wasser, Schlägen auf Glas und, darüber liegend, in größeren Abständen gemurmelten Kommentaren von Melchior: » … jetzt kommt gleich die erste Durchsage …; einige haben es gemerkt …; Vorsicht, die Treppe, der Bademeister …«; an dieser Stelle wackelte kurz das Bild, was daran lag, dass Melchior den Standort gewechselt hatte, um nicht in Fischlis Blickfeld zu kommen. Auf dem kleinen Display waren sehr deutlich die Gesichter konfuser Menschen zu erkennen, die in der Schleuse zum Außenbecken feststeckten. Carla starrte auf das Gedränge an den Glasscheiben und auf die Menschenmenge, die von der gegenüberliegenden Seite her ins Innere drängte, auf der Flucht vor dem vermeintlichen Giftgas. Lukas’ Stimme war ganz kurz zu hören, dann konnte man sehen, wie er am Bademeister vorbei die Treppe hinuntereilte und mit einem riesigen Satz ins Becken sprang, wo er einen kleinen Jungen, mit dem Gesicht nach unten treibend, entdeckt hatte. Carla stoppte das Video, sprang auf und funkelte erneut ihre beiden Kommilitonen an.
»Drei Fragen«, sagte sie betont langsam und deutlich, »erstens: Was ist mit dem kleinen Jungen passiert? Wieso wusstest du, Melchior, dass gleich eine Durchsage kommt? Und vor allem: Wo habt ihr die Gasgranaten her? Und wer hat die gezündet? Ihr beide wart ja wohl die ganze Zeit im Saunabereich, oder?«
»Das sind jetzt aber vier Fragen«, meinte Lukas.
»Es sind immer noch viel zu wenige Fragen«, fauchte sie ihn wütend an.
»Schon gut, schon gut, jetzt beruhig dich mal. Also: Dem Jungen geht’s gut«, erwiderte Lukas, »der ist gleich wieder zu sich gekommen. Ich hab sogar seine Mutter gefunden. Die hatte in dem Tumult noch gar nicht mitbekommen, dass ihr Sohn ›toter Mann‹ spielen wollte.« Er lächelte gequält und schaute Melchior von der Seite an, doch der schwieg. Er hatte sich einen Kaugummi in den Mund gesteckt und wich Carlas Blick aus. Melchior wusste, sie würde keine Ruhe geben, auch wenn sie jetzt ebenfalls schwieg. Ihr Schweigen konnte sehr herausfordernd sein. Das hatte er in den letzten beiden Jahren, seit sie gemeinsam in München Psychologie studierten, oft genug erlebt. Schließlich nahm er den Kaugummi raus und klebte ihn demonstrativ an die Mauer.
»Ach weißt du, Carla,« sagte er obenhin, »das mit der Durchsage und so, glaub’ mir, es ist besser, wenn du nicht alles weißt.«
»Besser für dich oder für mich?« Er schaute ihr in die Augen.
»Für dich«, und damit sprang er von der Mauer. »Übrigens war das kein Giftgas, nur ein paar harmlose Nebelgranaten.«
»Weißt du was«, giftete Carla ihn an, »sag das doch mal den Leuten ins Gesicht, die sich hier quälen.« Sie hielt ihm das Display vor die Augen. Das Standbild zeigte deutlich die verzerrten und verstörten Gesichter der Menschen aus dem Eingangsbereich. »Aber dazu fehlt dir einfach die Courage, Melchior.« Sie warf ihm das Smartphone voller Verachtung entgegen. Melchior fing es lässig auf. Lukas schaute angestrengt in eine andere Richtung. Carla hatte einen Entschluss gefasst. Sie hängte sich ihre Büchertasche um und holte tief Luft.
»Mit euch bin ich fertig«, sagte sie leise und ging. Lukas schaute ihr erschrocken nach. Melchior hielt ihn am Arm fest.
»Komm mit rein«, sagte er zu ihm, »wir müssen uns was überlegen.«
3. Kapitel
»Bedienen Sie sich«, sagte Lars Schilling mit seinem Handy am Ohr unwirsch zu seinen Gästen. Sie hatten sich