Mord aus kühlem Grund. Achim Kaul. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Achim Kaul
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750231757
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Penny Stock, die Spezialistin der Spurensicherung war mit ihren beiden Assistenten ebenfalls eingetroffen und wartete darauf, den Fundort unter die Lupe nehmen zu können. Schilling hatte kurzzeitig den Überblick verloren und beschlossen, der ganzen Sache zumindest räumlich aus dem Weg zu gehen. Während er noch telefonierte, setzten Zweifel und Melzick sich an den runden Glastisch, auf dem einige Mineralwasserflaschen bereitstanden. Fischli war auf ausdrücklichen Wunsch des Kommissars mitgekommen und beobachtete am Fenster stehend, wie sich das Gelände rund um die Therme allmählich leerte, die Sanitätswagen einer nach dem anderen abfuhren und zumindest nach außen hin wieder etwas Normalität einkehrte. Schilling sprach gedämpft. Er hatte sich auf seinem Schreibtischstuhl zur Wand gedreht und machte auffallend wenig Worte. Hauptsächlich war er mit Zuhören beschäftigt. Schließlich legte er auf und gesellte sich zu ihnen.

      »Das war Herr Kronberger, der Eigentümer der Therme.« Zweifel öffnete gerade seine zweite Wasserflasche. »Er befindet sich momentan im Ausland. Offenbar hat Ihr Chef,« er nickte unwillig zu Zweifel hinüber, »ihn schon informiert. Herr Kronberger kommt höchstpersönlich hierher. Wahrscheinlich schon morgen«, fügte er mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck hinzu. Zweifel leerte die Flasche zur Hälfte und stellte sie dann behutsam auf den Glastisch. Melzick behielt ihre in der Hand.

      »Wir haben ein großes Problem, Herr Schilling«, sagte er

      »Ach ja, nur eines?«, gab dieser zurück und verschränkte die Arme. »Mein lieber Herr Kommissar, ich bin von Problemen umzingelt!«

      »Gut, dann wollen wir mal festhalten: Eine ganze Menge Zeugen, die uns vielleicht weitergeholfen hätten, sind weg. Das ist zwar verständlich, aber auch gleichzeitig der Grund, weshalb wir diejenigen, die noch da sind, hierbehalten müssen, damit wir sie so rasch wie möglich befragen können.«

      »Haben Sie deswegen Ihre freundlichen Wachhunde überall postiert?« Zweifel legte seine Stirn in Falten. Allmählich verlor er die Geduld für das Verhalten Schillings.

      »Die Betonung liegt auf ›freundlich‹, Herr Schilling, weniger auf ›Wachhund‹. Und ich will Ihnen etwas verraten, Herr Schilling: In den mehr als zwanzig Jahren, die ich damit verbracht habe, Morde aufzuklären, durfte ich die Erfahrung machen, dass die Toten das freundlichste Verhalten von allen Beteiligten an den Tag legten.« Fischli, der immer noch am Fenster stand, drehte sich um. Diese Töne kannte er nicht. Der Geschäftsleiter, der gerade dabei war, eine Flasche Bitter Lemon zu öffnen, rutschte am Verschluss ab und verschüttete etwas auf dem makellosen Glastisch. Zweifel fuhr fort. »Die Opfer haben ausnahmslos mit mir kooperiert und früher oder später geholfen, das Geheimnis um ihren Abgang zu lüften. Vor allem, und das weiß ich am meisten zu schätzen, haben sie sich mit abfälligen Bemerkungen zurückgehalten.« Melzick schmunzelte in sich hinein. Zweifel richtete seine großen schwarzen Augen mit einem gewinnenden Lächeln auf Schilling. »Bei allem Respekt für Ihre Verantwortung und angesichts der Probleme, die sich um Sie herum versammelt haben, schlage ich vor, wir versuchen es alle einmal mit dieser Verhaltensweise.« Fischli war zu ihnen getreten und setzte sich nun ebenfalls an den Tisch. Dieser Ton sagte ihm zu. Schilling stand abrupt auf und wollte zu einer Erwiderung ansetzen. Im letzten Moment überlegte er es sich anders, da ihn alle drei ansahen. Er räusperte sich. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung und setzte sich wieder. Melzick holte ein Taschentuch hervor und wischte den Limonadenfleck auf. Schilling nickte ihr kurz zu, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Also, was ist am dringendsten?«, fragte Zweifel und legte einen Finger an die Nase.

      »Der Betrieb muss sich ganz schnell wieder normalisieren«, sagte Schilling mit Nachdruck.

      »Wir müssen herausfinden, wer der Tote ist«, sagte Melzick.

      »Die Glaswand muss erneuert werden«, sagte Fischli. Zweifel nickte. Der alte Bademeister beugte sich nach vorn, die Ellbogen auf den Knien. »Glauben Sie, dass das wirklich ein Anschlag war, Herr Kommissar? Ich hab sowas noch nie erlebt. Dieses Chaos, diese Panik, die vielen verzweifelten Menschen, ich …« Er brach ab und senkte den Kopf.

      »Im ersten Moment hat es wohl danach ausgesehen«, antwortete Zweifel. »Ich habe vorhin kurz mit meinen Leuten gesprochen und auch mit einem der Ärzte. Sie sind sicher, dass es kein Giftgas war. Wir haben zwei kleine Gasbehälter entdeckt, die in der Eingangshalle unter den Sitzbänken versteckt waren. Es dürfte sich um einigermaßen harmlose Rauchgasgranaten mit Fernzünder handeln. Das sieht mir nicht nach einem Terroranschlag aus.«

      »Was ist mit den Türen, die nicht aufgingen? Und die merkwürdigen Durchsagen? Die Stimme kam mir jedenfalls unbekannt vor und ich arbeite hier schon sehr lange«, beharrte Fischli. Zweifel schaute ihn fragend an.

      »Dann muss ich aber nochmal auf den Schrei zurückkommen. Waren es nicht zwei Schreie? Ich hatte den Eindruck, dass die Badegäste die nicht als harmlos empfunden haben.« Fischli erwiderte seinen Blick.

      »Wenn man alles im Zusammenhang betrachtet, dann waren sie das vielleicht auch nicht.«

      »Genau das ist die Frage«, ergänzte Melzick, »Hat dieses ganze Theater mit Schreien, verschlossenen Türen und Rauchgas irgendetwas mit dem Toten zu tun?« Zweifel stand auf und nickte Melzick zu.

      »Wir kümmern uns jetzt erstmal um die Zeugen, die Kollegen haben ja schon angefangen.« Er warf Schilling einen Blick zu. »Sie könnten mir später die Innereien der Therme erläutern, also wer wann wofür zuständig ist, und Sie, Herr Fischli, zeigen mir dann sozusagen den Maschinenraum und die Geheimgänge und öffnen mir alle Türen, auf denen ›Zutritt streng verboten‹ steht.« Schilling verzog genervt das Gesicht, Fischli nickte. »Kommen Sie, Melzick, sorgen wir dafür, dass die Menschen das Paradies verlassen dürfen.«

      »Wenn der Knebel nur nicht diesen entsetzlich süßen Geschmack hätte«, dachte Moritz Kronberger. Eine Mischung aus Süßholz, Saccharin und Anis. Es würgte ihn in der Kehle. Seine Hände waren auf seinem Rücken mit Klebeband fixiert, das ihm keinen Millimeter Bewegungsspielraum gab. Seine Beine waren oberhalb der Knie und an den Knöcheln auf die gleiche Weise gefesselt. Er lag auf der Seite auf einer alten Matratze. Die Augen hatten sie ihm nicht verbunden. Dennoch hielt er sie die meiste Zeit geschlossen. Er war 14 Jahre alt und er war vorbereitet. Das half ihm, nicht die Nerven zu verlieren. Seit Stunden kämpfte er mit seiner Atmung, zwang sich, den dicken Stoffballen, der in seinem Mund festsaß, zu ignorieren, den Schluckreflex zu kontrollieren. Ihm war sofort klar gewesen, was mit ihm passieren würde, als der rote Wagen neben ihm an der Ampel mit quietschenden Reifen bremste. Als die beiden Männer raussprangen und ihn von seinem Mountainbike rissen. »Also gut«, hatte er bei sich gedacht, »jetzt werde ich also gekidnappt.« Bemerkenswerterweise blieb er äußerst ruhig und gelassen. Seine Kidnapper waren sehr routiniert. Alles lief ab, wie hundert Mal geprobt. Keine Bewegung, kein Wort zu viel. Sein Vater hatte ihn und seinen Bruder seit sie zwölf waren, immer wieder auf die Möglichkeit hingewiesen, dass sie entführt werden konnten. Er hatte immer von der »Möglichkeit« gesprochen, nie von der »Gefahr«. Systematisch hatte er ihre Verhaltensweisen in einer solchen Situation eingeübt, sie regelrecht gebrieft. Moritz war auf seine Entführung also mindestens so gut vorbereitet, wie seine Entführer.

      »Vorbereitet sein ist das Allerwichtigste«, hatte ihr Vater ihnen in seiner kühlen Art eingeschärft. Für Moritz hatte es sich immer so angehört, als würde er zu seinen Angestellten sprechen. »Egal was man zu euch sagt, lasst euch nicht verunsichern. Geht davon aus, dass das zu dem Plan gehört. Deshalb: Wer vorbereitet ist, kann die Ruhe bewahren. Wer die Ruhe bewahrt, kann überlegen. Wer überlegt, kann überleben.« Wie ein Mantra kamen ihm diese Sätze immer und immer wieder in den Sinn, während er gefesselt und geknebelt auf einer modrigen Matratze in irgendeinem alten Obstkeller auf die nächsten Schritte seiner Entführer wartete.

      »Keine Sorge, Dad«, dachte er, »ich bin genauso ruhig wie du.« Sein Vater würde jede Lösegeldforderung erfüllen. Und dann würden alle Beteiligten zufrieden auseinandergehen und die Angelegenheit so schnell wie möglich vergessen. Soweit die Theorie. Sein Bruder und er hatten früh gelernt, wie man Theorien in die Praxis umsetzt. Ihr Vater war ein harter Lehrmeister gewesen. Nur eines würde Moritz Kronberger nie wieder vergessen, dessen war er sicher. Diesen widerlich süßen Geschmack in seinem Mund.

      Elias war zwölf