»Himmelherrgott, ist die wahnsinnig geworden?«, fluchte Fischli, der ältere Chefbademeister. Sie waren im Restaurantbereich, von wo eine Treppe auf die Empore mit den Exklusiv-Suiten führte. Einige Kinder kreischten vor Angst. Empörte Männerstimmen wurden laut, Frauen keiften. Es war ein wildes Durcheinander. Alle waren jetzt auf den Beinen, es mochten an die zweihundert bis dreihundert Menschen sein. Die im Wasser waren, versuchten, herauszukommen. Keinem gelang es. Die Leute drängten mit ungezügelter Macht zu den Glastüren an der Schmalseite des Beckens. Etliche stolperten oder wurden ins Wasser gestoßen. Fred schaute zur Schleuse hinüber, durch die man normalerweise ganz einfach ins Freie schwimmen konnte. Sie war von Menschenleibern verstopft und wirkte wie ein Flaschenhals. Die Leute schlugen wie wild auf das Wasser, drückten einander auf die Seite. Manche gerieten dabei unter Wasser. Scharfe Fingernägel kratzten über haarige Rücken, krallten sich an Badeanzügen fest. Fred schluckte, sein Mund war ganz trocken. Von Johanna war keine Spur zu entdecken. Fischli stürmte die Treppe hoch, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Er versuchte, in dem Lärm zu telefonieren.
»Halt einfach die Klappe und mach die Musik an!«, fauchte er wütend in sein Handy. »Egal welche, Herrgott nochmal!«, brüllte er jetzt und sah zu, wie die Leute anfingen, an die Glastür zu trommeln und zu hämmern. Von hinten drängten immer mehr nach. Die Unglücklichen, die ganz vorne standen, wurden erbarmungslos an die Glaswand gequetscht. Draußen auf der anderen Seite standen ein paar Saunagäste, die lachten und winkten. Sie hielten das Ganze für ein inszeniertes Spektakel. Vielleicht konnten sie auch einfach nicht glauben, was sich da vor ihren Augen abspielte. Fred stand jetzt auf der Treppe und versuchte, irgendwo in dem Getümmel Johanna ausfindig zu machen. Doch das war unmöglich.
»Liebe Badegäste, die Glastüren sind verriegelt. Bitte nutzen Sie …« Wieder brach die Lautsprecherstimme mitten im Satz ab. Fischli ballte die Fäuste, während er mit den Augen das Chaos absuchte.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein, verdammt«, zischte er. Die brodelnde Panik war nun nicht mehr aufzuhalten. Auch der Weg zu den Umkleidekabinen, von wo es nach draußen ging, war versperrt. Von dort schob sich plötzlich eine dichte Menschenmenge, zum großen Teil noch in Straßenkleidung, herein. Männer, Frauen, Jugendliche, kleine Kinder – alle husteten sich mit roten Köpfen die Lunge aus dem Leib. Fast alle hatten ihre Fäuste vor die Augen gepresst. Das Geschrei nahm zu. Vereinzelt wurden grobe Schläge ausgetauscht. Männer rangelten miteinander, prügelten aufeinander ein. Einige ältere Personen waren ihn Ohnmacht gefallen. Ein kleiner Junge, vielleicht drei Jahre alt, trieb bewusstlos im großen Vitalbecken. Fred starrte auf seine Badehose. Elias konnte es nicht sein. Er war ja viel größer. Die Leute im Becken hatten keine Augen für den kleinen, hilflosen Körper. Fischli hatte ihn ebenfalls entdeckt. Bevor sie etwas unternehmen konnten, war ein junger Mann in Jeansshorts über mehrere Köpfe hinweg ins Wasser gesprungen, drehte den Jungen um, zog ihn auf den Beckenrand und begann, ihn ins Leben zurückzuholen.
»Wir müssen die Leute von den Glastüren wegbringen«, rief Fred dem Bademeister zu. Dieser schüttelte heftig den Kopf.
»Das funktioniert nicht«, schrie er, während er eine andere Nummer wählte. »Was ist da draußen los, verdammt? Haltet doch die Leute auf! Hier drin ist Chaos! Und macht endlich die Türen auf! Wie …?« Fred sah, wie es dem Bademeister die Sprache verschlug. Fischli blickte ihm fassungslos ins Gesicht. »Giftgas. Draußen hat jemand mit Giftgas geworfen! Das ist ein Anschlag …« Er war kreidebleich geworden. Fred schluckte. Dann griff er sich mit beiden Händen an den Kopf, hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen. Fischli war überfordert. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Fred kämpfte mit Macht gegen den Fluchtreflex an und drehte sich gegen die Wand. So konnte er sich abschotten. »Wie kriegen wir die Menschenmassen hier raus?« Fischli stand mit herabhängenden Armen verzweifelt neben ihm. »Der Bagger«, schoss es Fred in den Sinn. Draußen war ein Bagger gewesen. Er hatte sich noch über ihn aufgeregt, als sie ankamen und er ihnen den Weg versperrt hatte. Der musste hier irgendwo auf dem Gelände sein. Irgendeine Erweiterung war im Bau. Er drehte sich zu Fischli um.
»Welche Glasscheibe lässt sich am ehesten sprengen?« Fischli starrte ihn verständnislos an. »Die Baustelle, Mensch. Da draußen muss doch een Bagger sin!« Fischli begriff. »Der Frühlingsjarten, wat meenen Sie?«, rief Fred und deutete heftig hinüber auf die andere Seite der Saunahalle zu dem Bereich mit den Infrarotliegen und den Liegestühlen unter Palmen. Hier hielt sich fast niemand mehr auf. Halb verborgen hinter künstlichen Palmwedeln boten deckenhohe, riesige Scheiben einen Blick ins Freie. Fischli reagierte sofort und griff zum Handy. »Hoffentlich hat Johanna den Kleenen jefunden«, dachte Fred zehn Minuten später, als mit einem ohrenbetäubenden Lärm der Frühlingsgarten in eine Wüste verwandelt wurde.
2. Kapitel
»Es reicht, Frau Lucy«, sagte Klopfer, »ich warte jetzt seit einer halben Stunde darauf, dass Sie mit Ihrem Privatgespräch zu einem Ende kommen. Genau dort ist meine Geduld: Zu Ende!« Polizeichef Alois Klopfer hatte, wie stets, wenn er sich aufregen durfte, sehr leise und eindringlich zur Büroperle gesprochen, während Lucys Augen immer größer und runder wurden.
»Das war meine Mutter, Chef. Die hat das Gegenteil von Alzheimer. Die merkt sich alles und vergisst nichts«, bemerkte Lucy, als sie das Telefonat hastig beendet hatte.
»Wenn das eine Drohung sein soll, dann würde ich Ihre Mutter gerne einmal kennenlernen.« Lucy schüttelte den Kopf und öffnete eine Schublade.
»Ich fürchte, das würde zu einem unvergesslichen Erlebnis ausarten.« Klopfer nahm sie ins Visier.
»Fürchten Sie eher für Ihre Mutter oder für mich?«
»Weder noch«, sagte Lucy ungerührt und nahm einen Schokoriegel in Augenschein, »ich fürchte, ich wäre die Leidtragende. Zwischen zwei Stühlen zu sitzen, ist schlecht fürs Rückgrat, hab ich irgendwo gelesen.«
»Apropos irgendwo – müssen wir heute eine Suchmeldung für Zweifel rausjagen oder darf ich darauf hoffen, ihn bald zu Gesicht zu bekommen?« Lucy hatte sich die Inhaltsstoffe des Schokoriegels genau durchgelesen und beschlossen, ihn vorerst zu verschonen.
»Friseur«, sagte sie und schloss die Schublade wieder.
»Was soll das heißen? Will er sich eine Perücke machen lassen?« Sie schüttelte den Kopf.
»Kann ich mir nicht vorstellen, wo ihm doch seine Glatze so glänzend steht.« In diesem Moment meldete sich ihr Telefon und Klopfer verdrehte genervt die Augen. »Oh, hallo Mel, ich dachte du bist im Urlaub. Wie – abgesagt? Aber warum …? Was? Nein, bei uns hat niemand angerufen. Was für ein Anschlag denn? Wo denn? Ist ja nicht zu fassen. Nein, den kannst du nicht sprechen, der ist noch nicht da. Versuch’s auf seinem Handy. Ja – ich geb’s weiter.«
»Was ist passiert?«, fragte Klopfer, als sie aufgelegt hatte.
»Die Therme. Da soll’s einen Anschlag gegeben haben, sagt Kollegin Zick. Mit Gas, wenn ich’s richtig verstanden habe.« Klopfer reagierte sofort und stürmte in sein Büro. »Aber wieso rufen die denn nicht bei uns an?«, konnte sie ihm noch hinterherrufen. »Ist doch nicht zu glauben. Wenn ich daran denke, wegen was sonst hier …« In diesem Moment klingelte es erneut. »Ah, Kommissar Zweifel, schön dass Sie anrufen.« Klopfer kam aus seinem Büro und fuchtelte wild mit seinem Arm. »Moment, ich geb’ Sie mal weiter an den Chef.«
»Zweifel! Wo zum Teufel sind Sie? Ach, Sie sind schon dort? Was genau ist passiert?« Klopfer lauschte einige Minuten hochkonzentriert, dann traf er seine Anweisungen. »Gut, ich schicke die ganze Mannschaft raus, alle verfügbaren Krankenwagen und Notärzte, und ich informiere das BKA für alle Fälle. Sind Sie sicher, dass es kein Giftgas war? Also müssen wir keine Warnung herausgeben? Gut, ich verlass mich auf Sie. Übrigens ist Kollegin Zick wohl schon auf dem Weg. Sie melden sich bitte in fünfzehn Minuten wieder und geben mir den neuesten Status durch.« Klopfer reichte Lucy den Hörer zurück. »Finden Sie raus, wer bei der Therme das Sagen hat und wem die