Als die Referendarin kurz darauf in Dr. Stedekinns Büro trat – ein großer Raum mit Schreibtisch, gesonderter Beratungstafel und ausgenadelter Lagekarte an der Wand – zeigte sich der Oberrat ganz gentlemanlike. Sein breites Lächeln, zusammen mit der leichten Verbeugung und dem kühl gemessenen Händedruck waren durchaus bühnenreif.
Selbst als er ihr einen Platz anbot, geschah das sehr zuvorkommend – nicht den Hocker am Katzentisch, oh nein, sondern den Sessel in der Gästeecke mit der Keksdose. Das war insofern ungewöhnlich, da eine solche Aufmerksamkeit nicht jedem zukam.
Kathi legte ihre Handtasche beiseite und kam seiner Aufforderung schweigend nach. Nachdem er sich ihr gegenüber platziert hatte, schlug er die Beine elegant übereinander und erkundigte sich nach ihrem Befinden.
Selbstredend geschah das mehr der Form halber. Gleichzeitig suchte er ihren Blick, in Erwartung ihrer Reaktion. Natürlich hielt sie ihm stand und bemerkte sofort seine Unsicherheit.
Er mochte Ende dreißig sein, keinesfalls älter, war von mittlerer Größe, sportlicher Statur und hatte sonderbar vorstehende Augen. Sein Blick wirkte fest und starr, aber auch eigentümlich unbestimmt.
Seine tadellose Frisur mit dem strengen Scheitel und dem penibel glattrasierten Gesicht gaben ihm etwas Glattes, Kaltes. Kurzum – nicht unbedingt jemand, mit dem man Vertraulichkeiten austauschte.
Wie man sagte, soll er so etwas wie einen Raketenstart hingelegt haben, hatte seine Promotion mit einem „summa cum laude“ gemacht und war sogleich als jüngster Rat in den höheren Dienst aufgerückt. Nun berechtigte er zu großen Hoffnungen und achtete deshalb penibel auf Ordnung in seinem Ressort. Zudem eilte ihm der Ruf eines Pragmatikers voraus, der nicht lange fackelte, wenn es um Schwachstellen ging.
Natürlich beantwortete sie alle Fragen zu Dr. Stedekinns Zufriedenheit, was diesen auch freute. Zumindest tat er so. Dann aber trübte sich sein Gesicht merklich ein und er kam zu einer, wie er es nannte, ‚unerfreulichen Sache‘.
Dabei erklärte er ihr mit süßsaurem Lächeln, dass er sich doch sehr wundern müsse. Aber es wäre schon seltsam, dass eine Referendarin trotz Anweisung eines erfahrenen Kollegen gleich bei ihrem ersten Einsatz derart über die Stränge schlüge und damit die ganze Mission in Gefahr brächte.
„Um es kurz zu machen, Frau von Hardenberg: Ich spreche Ihnen hiermit eine Missbilligung aus“, kam er endlich zur Sache. „Sie haben durch Ihr Verhalten unsinnigerweise eine nicht hinnehmbare Situation provoziert. Glauben Sie etwa, in einem Tagesseminar zu sein? Hier geht es um höhere Dinge und der kleinste Fehler kann schwerwiegende Folgen haben. Offenbar ist Ihnen das nicht bewusst!“
Kathi fiel aus allen Wolken. Also doch! Alex hatte geplappert. Das hätte sie nicht erwartet. Im Nu stieg eine rasende Wut in ihr auf, zumal sich der Doktor auch noch in allerlei Lobhudeleien über die hervorragende Arbeit ‚seines Ersten‘ verlor, dessen Besonnenheit zweifellos Schlimmeres verhindert habe.
Damit nicht genug. Dr. Stedekinn legte auch noch nach, indem er sie wie ein ungezogenes Schulkind mit erhobener Stimme zurechtwies. Dabei sparte er nicht mit Plattitüden wie verschworene Gemeinschaft, Pflichttreue und Verantwortungsbewusstsein. Offenbar glaubte er selbst, was er sagte, denn er zeigte dabei eine durchaus überzeugende Empörung.
„Pflichttreue? Verantwortungsbewusstsein? Aber ich bitte Sie! Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass die Beweislage sehr zweifelhaft ist und hier möglicherweise ein Fehlurteil vorliegt!“, widersprach Kathi sofort. Woher sie den Mut dazu nahm, wusste sie nicht, aber diese Unterstellungen brachten sie auf die Palme.
Kurz stutzte er, wollte etwas erwidern, verfiel dann aber in ein mildes Lächeln und meinte: „Aber Frau von Hardenberg. Ihr Engagement in Ehren. Nur sollten Sie sich zu Urteilen über Dinge enthalten, die längst entschieden sind.“ Und als sie sich überrascht zeigte, setzte er hinzu: „Es ist nicht immer angebracht, Staub aufzuwirbeln, wo keiner vorhanden ist, wenn Sie verstehen.“
„Wie soll ich etwas verstehen, was nicht zu verstehen ist, oder habe ich mich unklar ausgedrückt? Ich bin einem Justizirrtum auf der Spur und möchte diesen aufklären!“
Ohne es zu wollen, hatte sie sich im Ton vergriffen. Damit riskierte sie sehr viel. Aber sie war nicht nur verstimmt, sondern geradezu schockiert über diese Ignoranz. Am liebsten hätte sie laut aufgelacht, nahm sich aber zusammen.
Der Umstand, wie kalt dieser so elegante Herr und Übervater eine offenkundige Rechtsbeugung negierte, passte genau zu seiner schriftlichen Anweisung. Dabei war die Sache doch klar und sollte ihn, wenn schon nicht berühren, so doch wenigstens verwundern. Doch nicht einmal das geschah.
Augenblicklich bat der Oberrat um Mäßigung. Nachdem er sich etwas geordnet hatte, erklärte er ihr erneut, dass dies hier kein Wunschkonzert sei und überhaupt, was sie sich erlaube, hier solchen Alarm zu schlagen. Wenn sie sich nicht zusammennehme, hätte das Konsequenzen.
„Aber bitte! Nur zu! Dann aber vollständig!“, forderte sie ihn auf und komplettierte damit seine Verwirrung.
„Was meinen Sie?“ Er schien noch immer nicht zu begreifen.
„Ich meine, dann sollte auch alles auf den Tisch. Auch Ihr schriftlicher Hinweis in Form eines kleinen Ratgebers an Ihren ersten Sachbearbeiter mit der Maßgabe, möglichst mit angezogener Handbremse zu fahren, um bloß nicht zu viel aus dem Professor herauszukitzeln! Wissen Sie, wie man so etwas nennt?“
Dr. Stedekinn, jetzt völlig baff, vergaß darüber selbst allen Zynismus. Er schaute Kathi an, ohne sie zu sehen. Anscheinend brauchte er einen Moment, um das zu verarbeiten. Dann aber wurde ihm die ganze Infamie bewusst und er fragte mit verächtlich geschürzten Lippen, ob sie ihn veralbern wolle.
„Keinesfalls! Mir geht es nur um Unvoreingenommenheit und Einhaltung der Gesetzlichkeit!“
Der Oberrat erblasste. Wie komisch er jetzt anzusehen war, gar nicht mehr so glatt und überheblich. Plötzlich zeigte sich in seinem Gesicht eine unbestimmte, aber heftige Unruhe. Er wusste also, wovon sie redete.
„Hören Sie, Frau von Hardenberg. Damit wir uns richtig verstehen. Wenn ich Sie jetzt nicht auf der Stelle hinauswerfe und einen entsprechenden Brief an Ihren Dekan Dr. Meyer-Bücher schreibe, dann nur, weil ich Sie für überspannt halte! Ihre Behauptungen sind eine einzige Unverschämtheit, die Folgen haben wird!“
„Aber bitte. Nur zu“, erwiderte Kathi schulterzuckend. „Dann werde ich dem Herrn Knolle einige Informationen zukommen lassen. Sie wissen doch, Ihrem Justiziar. Ich glaube, der ist ganz heiß auf solche Geschichten.“ Sie griff in ihre Tasche und zog ihr Smartphone heraus. Nachdem sie die Bilder aufgerufen hatte, hielt sie ihm diese unter die Nase.
Man sah, wie es in Stedekinn arbeitete, wie er nach Worten suchte und doch nichts herausbrachte. Das war ja ungeheuerlich. Wieder und wieder betrachtete er die Aufnahmen und begann zu begreifen, welche Bombe sie da in den Händen hielt. Nicht auszudenken, wenn das rauskäme.
Voller Unruhe stand er auf und lief im Zimmer auf und ab, dabei immer wieder sein Bedauern bekundend, schaute kurz auf, um sich danach verdrießlich die Stirn zu reiben. Was sollte das alles?
Genau genommen sei das Ganze doch nichts weiter als ein Missverständnis, nicht mal der Rede wert, begann er zu lamentieren. Er lachte einmal kurz auf, kam dann aber gleich wieder ins Grübeln. Dabei verlieh ihm die Furcht und Benommenheit, die ihn umnebelte, fast eine gewisse Aufrichtigkeit.
„Und nun?“, fragte er. „Was soll nun werden?“
„Ich finde, wir sollten uns einigen.“
„Einigen? Und wie soll das aussehen?“
„Ganz einfach. Ich bekomme in dieser Sache weitestgehend freie Hand.“
„Wie bitte?“ Der Oberrat maß sie prüfend. „Was haben Sie vor?“