So oder so ist es Mord. Anja Gust. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Gust
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753188300
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abgewatscht vor, wobei niemand hätte sagen können, ob dieser Riss jetzt noch zu kitten war.

      Kaum war Kathi in ihrer Wohnung, musste sie sich erst mal sammeln. Dabei versuchte sie, jeden Gedanken an den morgigen Tag zu verdrängen. Vielmehr betrachtete sie noch einmal die Aufnahmen auf ihrem Smartphone und musste bald feststellen, dass die auf diesem Zettel ersichtlichen Hinweise und Empfehlungen doch sehr vage gehalten waren. Niemals würden sie einer strafrechtlichen Würdigung standhalten. Aber das wusste Alex ja nicht und darauf setzte sie.

      Noch am selben Abend ging sie am Laptop die Fotokopien der Akte Bertold Wittenburg durch, die sie ebenfalls heimlich gefertigt hatte.

      In ihrer Eigenschaft als Referendarin bekam sie keinen ungehinderten Zugriff, da ihr jede Beamteneigenschaft fehlte und eine tiefere Untersuchung auch nicht ihrem Aufgabenbereich oblag.

      Dennoch hatte sie sich eigenmächtig darüber hinweggesetzt, wohlwissend, welches Fehlverhalten sie damit beging. Doch wenn sie schon etwas tat, sollte es mit aller Konsequenz geschehen.

      Dazu hatte sie Alex‘ morgendliche Kaffeepause genutzt, die für gewöhnlich immer ziemlich lang ausfiel, und dabei jedes einzelne Blatt abgelichtet, selbst das, was als ‚vertraulich‘ gekennzeichnet war. Aber gerade dort war sehr viel Interessantes zu finden gewesen.

      Demnach hatte das Opfer, Frau Luise Wittenburg, wegen angeblicher Depressionen in ihrem Zuhause Suizid begangen und das alles zu einer untypischen Zeit und in einer unmöglichen Situation. Aber was hieß schon untypisch und unmöglich – das blieb relativ, wie sie sogleich anmerkte.

      Das war sehr interessant, zumal die atypische Fundsituation an einem Fensterkreuz nicht mit den ‚Strangmarken‘ übereinstimmte – das Hauptindiz der Anklage. Es sei somit unmöglich, sich so zu erhängen, so das Fazit. Hinzu kam der unklare Verschlusszustand der Wohnungstür. Die nachfolgende Obduktion konnte ein Fremdverschulden ebenfalls nicht zweifelsfrei ausschließen.

      Mit höchster Konzentration sichtete Kathi die Tatortfotos: Bieder eingerichtetes Wohnzimmer, die Küche in Eiche ‚rustikal‘, auf der Anrichte neben dem Telefon stand ein Blutdruckmessgerät. Diverse Schuhe waren akkurat im Schuhregal aufgereiht.

      Der Briefkastenschlüssel, nebst weiteren beschrifteten Schlüsseln für Garagentor, Keller und Gartenhaus hingen am Schlüsselbord – kurzum, alles ohne besondere Auffälligkeiten. Ein Haushalt wie überall. Die damals fast achtzehnjährige Tochter Solveig bewohnte zum Tatzeitpunkt das Zimmer unterm Dach.

      Fiebernd überflog Kathi die nächsten Zeilen: ‚Bertold Wittenburg zeigte schon zuvor einige psychische Auffälligkeiten mit Neigungen zu leichter Schizophrenie‘. Weiter hieß es auf Seite 26: ‚Nachbarn berichten wiederholt von lautstarken Streitereien zwischen den Eheleuten, obgleich der Ehemann als ruhig und ausgeglichen galt‘. „Warum wurde das bei der späteren Beweiswürdigung unterschlagen?“, fragte sie sich. Zudem wurde er als cholerisch und unberechenbar hingestellt.

      Hastig scrollte sie weiter. „Ach ja hier“, ‚die Familie pflegte ein besonders freundschaftliches Verhältnis zu einem Politiker – einem gewissen Uwe Lindholm‘. „Ach, sieh an! War das nicht der politische Schreihals von der DVA, der erst jüngst durch ‘ne Menge Phrasen auf sich aufmerksam gemacht hatte?“ Sie zog die Stirn in Falten.

      „Natürlich!“, schlussfolgerte sie. „Irgendetwas musste dieser Kerl damit zu tun haben, wurde aber nur lückenhaft dazu gehört. Interessant! Und was bedeutete ‚besonders freundschaftlich‘? Kein Wunder, dass die Sache von besonderer Brisanz war. Es musste also ein Bauernopfer her, da solche Fälle nicht ungelöst bleiben dürfen“, dachte sie. „Moment mal – wer hat den Artikel geschrieben? René Schulze-Bierbach. Komischer Name – schon notiert.

      Hier steht es dann auch im nächsten Artikel: ‚Wittenburg schuldig des brutalen Mordes an seiner kranken Ehefrau‘. In der Tat eine reißerische Aufmachung, steigerte sicher die Umsatzzahlen, wie Alex bereits bemerkt hatte. Aber halt – kranke Ehefrau? Wo kommt das denn her? Muss ich noch herausfinden.

      Dann aber weiter: ‚Wittenburg in Nervenheilanstalt, wiegelt Mitinhaftierte auf, lehnt sich gegen Aufseher auf. Soziologieprofessor tritt in den Hungerstreik. Wittenburg legt Geständnis ab‘. Blödsinn! Was hat er denn gestanden? Doch nur das, was bereits bekannt war.

      Zudem war die Vernehmung sehr schwach geführt, voller Suggestivfragen und Unterstellungen. Es wurde keinerlei Rücksicht auf den desolaten psychischen Zustand des Beschuldigten genommen. Und hier – keine Belehrung, jedenfalls fehlte die Unterschrift. Das war ja ein Skandal!“

      Kathi kochte sich bereits den dritten Kaffee und kam von der Akte nicht mehr los. Und jetzt nach zwei Jahren plötzlich die verblüffende These, wie die unstimmigen Strangmarken plausibel zu erklären waren.

      Demnach konnte das Opfer, wie die Rekonstruktion ergab, durchaus nach der Strangulation durch sein Eigengewicht vom Sims herabgerutscht sein, selbst noch lange nach dem Todeseintritt, bedingt durch die einsetzende Starre.

      „Hier steht es ja auch: ‚Dieser Einwand war damals bereits vorgebracht, doch schon in erster Instanz als unbewiesen und konstruiert abgeschmettert worden, gefolgt von einem Beweisverwertungsverbot‘. Und von wem? Aja, von Dr. Stirner, dem damaligen Gerichtsmediziner“, stellte sie fest.

      „Alles klar! Jeder wusste, dass der seit Urzeiten mit der DVA sympathisierte. Also, Lindholms Parteifreund! So einen bestimmt man doch nicht zum Sachverständigen! Der war doch befangen!

      Wenn nur dieses verdammte Geständnis nicht wäre! Es war in höchstem Maße zweifelhaft und wer weiß, wie es zustande gekommen war. Vor allem aber, warum musste der Professor, verdammt noch mal, seine erste Aussage widerrufen?

      Man hatte ihn unter Druck gesetzt. Das war’s! Also der nächste Rechtsbruch, denn niemand ist verpflichtet, sich selbst zu belasten.“ So ein Zufall, aber genau dazu hatte sie vor kurzem ein längeres Exzerpt verfasst.

      Aber noch etwas anderes begann sie zunehmend zu beunruhigen: Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, die Tat könnte womöglich durch eine andere Person begangen worden sein, welche nur die Umstände nutzte. Der Professor hatte seine Frau gewürgt. Das war unstrittig. Doch wirklich bis zum Todeseintritt?

      Danach war Wittenburg in einem Zustand völliger Apathie in unmittelbarer Nachbarschaft aufgegriffen und festgenommen worden. Dennoch soll er den Leichnam noch nach Tatausführung ans Fensterkreuz gehängt haben? Wie hätte das gehen sollen? In einem solchen Zustand war kein Mensch dazu imstande. Warum nur – in aller Welt – hakte hier niemand nach?

      ****

      Die Karten liegen offen

      In Kiel vereinzelte Schauer, 22 Grad. Von Nordnordost aufziehender stürmischer Wind.

      Kathi bekam in dieser Nacht kein Auge zu. Immer wieder ging ihr der Fall ‚Wittenburg‘ durch den Kopf. Ihr wollte partout nicht einleuchten, wie man angesichts solcher Zweifel so ein Urteil begründen konnte. Entweder wollte man etwas vertuschen oder es wurde geschlampt. Letzteres erschien ihr unwahrscheinlich.

      Dass Alex etwas wusste, stand außer Frage. Von wegen, nur für die Akte! Das konnte er sonst wem erzählen. Ihm fehlte schlichtweg der Mut, gegen offenkundige Missstände anzugehen. Hier zeigte sich der Leisetreter und selbstverliebte Schaumschläger, welcher einknickte, sobald Courage gefragt war.

      Nein, er war kein Vorbild und bot nicht mal eine Orientierung. Das Einzige, was ihn auszeichnete, war seine Selbstdarstellung samt Machoposen.

      Aus Wut darüber trank sie einen Jim Beam und rauchte einen Joint, wie immer, wenn sie Ablenkung suchte. Rasch verschaffte ihr das mild-süßliche Aroma verbunden mit dem Alkohol die nötige Entspannung. Der Geruch des verlöschenden Streichholzes erinnerte sie an Weihnachten und einen unbedeutenden Moment lang sehnte sie sich danach, noch einmal Kind zu sein.

      Sie schloss die Augen und war wieder die Neunjährige, die in den Sommermonaten auf dem maroden Gutshof der Großmutter weilte. Trotz steter Ermahnungen ob ihrer aristokratischen Pflichten, hopste sie unbefangen mit dem Nachbarsjungen – einem sommersprossigen,