An einem regnerischen Abend kurz nach Sonnenuntergang verkündete der Große Udiko: »Die zwei Wochen sind um. Du kannst das Tuch nun wieder abnehmen, wenn du willst.«
Ob ich wollte? Was für eine Frage! Allerdings hatte sich der Knoten so festgezogen, dass ich mein Messer zu Hilfe nehmen und das Tuch zerschneiden musste. Langsam zog ich es mir vom Kopf – und war froh, dass Udiko eines seiner beiden Leuchttierchen abgedeckt hatte. Selbst der schwache Schein tat mir in den Augen weh.
»Morgen gehst du nicht raus – du musst dich langsam wieder ans Licht gewöhnen«, befahl Udiko. Er legte mir kurz die Hand auf die Schulter. »Glückwunsch. Diese erste Zeit war nicht leicht, aber du hast dich gut gehalten, Tjeri.«
In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass ich alles durchstehen konnte, was jetzt noch kommen würde. Das lag nicht nur an dem Lob. Ich hatte eine Ahnung davon bekommen, was ein Sucher ist, was ich aus mir machen könnte – und ich war wild darauf, mehr zu lernen.
Damals wusste ich nicht, dass Udiko und mir die wahre Zerreißprobe noch bevorstand.
Auf der Kippe
Unter der Erde gab es keine Nacht und keinen Tag. Aber in der Felsenburg gab es Zeiten, in denen es ruhiger war, weil die meisten Dörflinge schliefen, und diese Zeiten nutzten die Halbmenschen, um sich davonzuschleichen von ihren aufgezwungenen Arbeiten. Auch Mi'raela ging hin und wieder zu den Treffen, meist nachts, wenn Spinnenfinger hinter seiner Tür schnarchte. Über wenig benutzte Gänge und geheime Tunnel schlich sie sich zu den Lagerräumen tief, tief unten, in denen sich ihre Leidensgenossen versammelten.
Hier waren sie vor Entdeckung so sicher, wie es in der Felsenburg überhaupt möglich war – nur sehr selten kam jemand hierher, der nicht zur Bruderschaft aller Halbmenschen gehörte. Und wenn doch einmal ein Dörfling die Treppen hinab polterte, um Vorräte zu holen, dann fand er nichts außer leeren Räumen und einem leichten Raubtiergeruch, der noch in der Luft hing. Denn Katzenmenschen hatten feine Ohren, und Iltismenschen noch feinere, und beide verstanden etwas davon, sich zu verstecken. Auch belauschen konnte ein Mensch die heimlichen Versammlungen nicht. Dabei wurde kein Wort Daresi gesprochen, und die Sprachen der Halbmenschen klangen für Fremde wie scheußliches Kauderwelsch.
In dieser Nacht hatten sich ein halbes Dutzend Katzen eingefunden, zehn Iltisse, ein Natternmensch, dessen Aufgabe darin bestand, die Wasserspeicher unter der Burg frei von Parasiten zu halten, und drei Krötenmenschen, die ebenfalls das Reservoir pflegten. Wie üblich saßen die Krötenmenschen verschüchtert beieinander, denn die Iltismenschen machten sich nicht selten einen Spaß daraus, üble Witze auf ihre Kosten zu erzählen und sich darüber auszutauschen, wie Kröte schmeckte. Mi'raela wunderte sich, dass die Krötenmenschen überhaupt noch kamen. Sie schienen mehr Mumm zu haben, als die meisten ihnen zutrauten.
»... halb totgeschlagen hat ihn ein Aufseher, und nur weil mein Bruder ihn angeknurrt hat«, berichtete ein Iltismensch gerade die neusten Neuigkeiten aus den Küchen, Kellern und Dienstbotenräumen der Burg. »Ach, ich könnte sie in Stücke reißen, in Stücke! Wenn nur die Quelle nicht wäre.«
Ja, die Quelle. Der geheimnisvolle Stein der Regentin, der bewirkte, dass kein Halbmensch ihr und ihren Schergen den Gehorsam verweigern konnte.
»Irgendwann wird wieder jemand kommen, der die Quelle berührt, und dann sind wir frei«, meinte der Krötenmensch sehnsüchtig.
Niemand antwortete ihm. Es war schon sehr, sehr lange her, dass ein Mensch die Quelle berührt hatte. Mi'raela gab sich wenig Illusionen darüber hin, dass es während ihrer Lebenszeit noch einmal einen Versuch geben würde, geschweige denn einen erfolgreichen. Sie entschied sich, das Thema zu wechseln.
»Eine Menschenwelpin treibt sich bei den Teichen herum«, sagte sie. »Nachts auch noch, nachts. Sie macht viel Lärm.«
»Ich habe sie bemerkt«, meinte ein Iltis, und ein paar der anderen nickten. »Sehr jung noch und neu in der Burg.«
»Lästig ist das – sie bringt alles durcheinander, alles. Ich kann dort keine Wasserkäfer jagen, ehe sie wieder weg ist«, beschwerte sich Zz'eldan, der Natternmensch. »Hast du mit ihr gesprochen, Mi'raela?«
»Ja. Sie wirkt harmlos.«
»Wer weiß. Vielleicht spioniert sie für die Dörflinge, warum soll sie sonst um diese Zeit in der Burg unterwegs sein?«, meinte ein alter Iltismensch namens Cchrnoyo. »Fern halten solltest du dich von ihr, fern, sonst erfährt sie zu viel über uns.«
Das gefiel Mi'raela nicht. Gut, Cchrnoyo war alt und weise, er hatte den Ehrentitel eines Caristans bei den Iltismenschen und genoss hohes Ansehen in der Bruderschaft. Aber sie selbst nicht minder! Natürlich hatte er Recht – aber was fiel ihm ein, ihr vor allen anderen Ratschläge zu erteilen? Demonstrativ fuhr sie ihre Krallen aus und schärfte sie an einer Holzkiste. »Mal sehen«, sagte sie beiläufig. »Was gibt es schon groß zu verraten?«
Cchrnoyo verzog das Gesicht. »Pass auf, sage ich dir, pass auf! Wenn du uns in Schwierigkeiten bringst, müssen wir alle es büßen, alle.«
»Ja, ja, schon gut.« Mi'raela war froh, als zwei junge Iltismenschen mit Neuigkeiten hereinplatzen. Sie erzählten, dass demnächst ein Fest für Gesandte aus der Feuer-Gilde stattfinden würde. Diese Aussichten heiterten alle auf. Die Feuer-Leute waren beliebt bei den Iltismenschen, mit denen sie verbündet waren. Außerdem wurde zu ihren Ehren viel Fleisch serviert, und davon blieb immer etwas übrig. Die gewürzten Blätterspeisen und Nusspasteten dagegen, die es für Erd-Leute gab, schmeckten höchstens Hirschmenschen – und von denen gab es in der Burg keine. Sie waren in den engen Gängen der Burg nutzlos. Ihr Glück!
* * *
Als Nächstes wollte Udiko, dass ich lernte, mich ohne Worte zu verständigen, und die Signale zu lesen, die ein Mensch unbewusst ständig durch seine Haltung und seine Bewegungen aussandte. »Wenn du das perfekt beherrschst, wird es anderen so vorkommen, als könntest du ihre Gedanken lesen«, sagte er. »Außerdem ist es nützlich, wenn du in Gegenden bist, deren Sprache du nicht verstehst.«
Ich war begeistert. Bis ich erfuhr, wie ich das üben sollte. Zwei Wochen lang würden wir schweigen. Beide sollten wir ohne Worte auskommen, uns nur mit Gesten mitteilen. Ich seufzte. »Was ist mit Aufschreiben?«
»Nur im Notfall.«
Was die Sache schwieriger machte, war, dass Udiko inzwischen wieder Aufträge annahm. Die natürlich ich erledigte. Denn mit Dingen wie zahmen Regenfischen, die entschwommen waren, und Händlern, die an einen bestimmten Ort geführt werden wollten, gab er sich natürlich nicht ab. Das alles wäre eine lustige Arbeit gewesen, wenn ich hätte reden dürfen. Ich konnte nicht mal die traditionellen Worte Hiermit nehme ich die Suche an sprechen, wenn ich einen Auftrag übernahm.
»Ist der stumm, oder was?«, meckerte ein Mann der Luft-Gilde, der unbedingt zehn Dutzend Perlenkorallen irgendwoher kriegen wollte, und zwar am besten noch heute.
»So was in der Art«, antwortete Udiko grinsend, und mit wütenden Gesten machte ich dem Händler klar, dass ich keineswegs stumm und das alles die Schuld eines völlig verrückten Meisters war, der im Laufe seines Lebens wahrscheinlich schon ein Dutzend Lehrlinge in den Wahnsinn getrieben hatte. Udiko grinste noch breiter.
Mit Korallen kannte ich mich eigentlich gut aus, aber diesmal hatte ich Pech und fand auch nach zwei Tagen Suche nur eine kleine, unreife Kolonie – was kein Wunder war, die Saison begann gerade erst. Wütend zog der Händler ab, und ich warf