Zu Anfang lief ich oft gegen die Wände der Kuppel, die zum Glück federnd nachgaben. Ich gewöhnte mir an, die Arme auszustrecken, wenn ich mich durch die Gegend bewegte. »Das machen nur Anfänger«, schalt mich Udiko. »Wenn du so rumläufst, siehst du aus wie ein Wanderprediger.«
»Gequirlte Schnepfengalle, ich bin ein Anfänger ...«
»Dann hör gefälligst zu, weil ich dir jetzt etwas beibringe!«, knurrte mein Meister – und erklärte mir, wie man auf das feine Echo von Geräuschen lauschen und so feststellen kann, wie groß der Raum ist, in dem man sich befindet, wo die Wände sind und wo Hindernisse lauern. In jeder Umgebung klingen Geräusche anders, mal flach, mal dumpf, mal hallend – wer das nutzen lernt, kann sich mit etwas Übung in völliger Dunkelheit orientieren.
Trotz dieser Schulung holte ich mir Beulen. Als ich Udikos Sammlung von Merkwürdigkeiten abtastete, fiel ein ganzer Turm davon in sich zusammen und knallte mir auf den Kopf. Zum Glück waren keine schweren Statuen dabei.
Mitleid bekam ich natürlich keines. »Wie kann man nur so blöd sein und das Kästchen herausziehen, das den Stapel zusammenhält«, raunte Udiko und brummte mir neue Übungen für den Tastsinn auf.
Am zweiten Tag ging's raus in den See, und ich genoss das Gefühl des Wassers auf der Haut. Bei diesen Übungen hatte ich weniger Probleme, als ich befürchtet hatte. Seit meiner Kindheit tauchte ich in den Seen von Vanamee, ich war es gewöhnt, ihre dunklen Abgründe zu erforschen. Auch die Kunst, nachts einem schwimmenden Menschen zu folgen, indem man seinen Wasserwirbeln nachspürt, hatte ich oft genug mit meinen Freunden geübt.
Schwieriger wurde es, als Udiko mich alleine losschickte und mir Aufgaben stellte, die ich blind bewältigen musste – zum Beispiel, eine reife Honigblüte von der Landbrücke zu holen, ohne sie dabei zu zertreten. Oder einen Gegenstand zu finden, den er an einer bestimmten Stelle des Sees deponiert hatte. Ich übte, Schwimmzüge zu zählen, um Zeiten und Entfernungen zu schätzen, und mir jede meiner Bewegungen zu merken, um sie auf einer Landkarte in meinem Gedächtnis einzutragen.
Nach einer Woche verirrte ich mich auch mit verbundenen Augen immer seltener. Ich konnte an dem Gefühl der Sonne auf meiner Haut abschätzen, welche Tageszeit es war. Meine Ohren schienen viel schärfer geworden zu sein und meldeten mir Dinge, die ich zuvor einfach überhört hatte.
Doch in der Nacht legte ich manchmal die Hände auf meine nutzlosen Augen und wünschte mir, die Sonne sehen zu dürfen, die ruckartigen, scheuen Bewegungen des Mondreihers, das Glitzern des Wassers an einem hellen Tag. Lachende Augen hast du, hatte Lourenca mir einmal gesagt. Wenn du mich anschaust, dann ist das für mich wie der Geschmack von Quellwasser ...
Das Dumme an verbundenen Augen ist, dass man sich noch nicht mal Tränen wegwischen kann.
Udiko schien zu spüren, dass es mir schon mal besser gegangen war. »Heute schwimmen wir auf den Markt«, verkündete er am achten Tag.
Zuerst freute ich mich über die Abwechslung. Nach einer Woche allein mit dem Alten würde es Spaß machen, mal wieder andere Leute zu treffen. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich das schwarze Tuch noch immer nicht ablegen durfte. »O je. Ich werde mir vorkommen wie ein Idiot.«
»Sei nicht albern, Kleiner. Du bist nicht der erste Lehrling, den ich ins Dorf mitnehme.«
Wir machten es uns einfach und ließen uns den Xanthu-Fluss hinuntertreiben, bis wir den Südlichen Markt erreichten. Schon von weitem hörte ich das Stimmengewirr, das Geräusch von Paddeln, die durchs Wasser gezogen wurden, das Blubbern von Suppen an den Kochständen. Verlockende Gerüche nach frischen Goldalgen, geräuchertem Aal und scharf gewürzten Fischbällchen durchzogen die Luft. Wir kletterten auf die Plattform und mischten uns unter die Menge. Ständig streiften mich Arme, spürte ich Körper an mir vorbeidrängen. Obwohl ich eigentlich ein geselliger Mensch bin, fand ich das nach der Einsamkeit des Xanthu-Sees anstrengend. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich konnte die Blicke förmlich spüren, die sich auf mich richteten. Es wurde fast unerträglich, nichts sehen zu können, und ich fühlte mich so hilflos wie lange nicht. Blind hätte ich in dieser lärmenden Menge keine Chance, meinen Meister wieder zu finden, sollte ich ihn verlieren.
»Ganz ruhig«, raunte mir Udiko zu. »Lausch auf die Stimmen. Hörst du, wie die dunklen Töne daraus verschwinden, wenn jemand aufgeregt ist? Achte nicht so sehr auf das, was gesagt wird, sondern auf das, was in der Stimme mitschwingt ...«
Wir blieben den ganzen Tag auf dem Markt. Ich verbrachte die Zeit mit Zuhören, Udiko damit, sich an den Fressständen durchzuprobieren. Etwas vorsichtiger folgte ich seinem Beispiel. Ich war gerade in einer Phase, in der ich mir nicht mehr sicher war, ob ich überhaupt weiterhin Fleisch – tote Tiere! – essen wollte.
Unschlüssig ging ich an den Ständen vorbei und versuchte, mit der Nase festzustellen, was es dort gab. Da Udiko natürlich nicht daran dachte, mich am Händchen zu nehmen, passierte das Unvermeidliche: Ich stolperte über eine Kiste, die jemand hatte stehen lassen, und schlug der Länge nach hin.
»Alles klar?«, fragte eine helle Stimme besorgt. Eine schmale Hand ergriff meinen Ellenbogen und half mir, wieder auf die Füße zu kommen.
»Danke«, keuchte ich und versuchte, mich neu zu orientieren. Ich hatte mir zwar kaum wehgetan, aber durch den Unfall wusste ich nicht mehr, in welche Richtung ich gegangen war. Mit etwas Pech spazierte ich jetzt ahnungslos zum Ende der Plattform zurück und fiel über die Kante ins Wasser. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte ...
»Wieso trägst du dieses ... Ding? Bist du an den Augen verletzt?« Das Mädchen war immer noch da.
»Zum Glück nicht – ich bin Sucher-Lehrling«, erklärte ich und versuchte, sie anzulächeln. Aber anscheinend guckte ich in die falsche Richtung, denn sie begann zu kichern. Ich drehte mich ihrer Stimme zu. »Tja, schade, ich weiß gar nicht, wie du aussiehst.«
Das Mädchen lachte. »Schau doch selbst ...«
Sie nahm einfach meine Hand und legte sie auf ihre Wange. Ich war so verblüfft, dass ich erst einen Wimpernschlag später begriff, was sie meinte. Dann begann ich, sanft ihr Gesicht abzutasten. Sie hatte eine kleine, ein bisschen knubbelige Nase, unglaublich zarte Haut und kurze Haare, wie wir sie fast alle trugen, weil sie nicht so lange zum Trocknen brauchten. »Fühlt sich alles ziemlich gut an«, sagte ich. Sie roch auch gut, nach frischem Wasser und Baumharz und den Nüssen, die sie wahrscheinlich vorhin gegessen hatte.
»Na, schade, dass du auf diese Art nicht sehen kannst, wie schön der Himmel heute aussieht. Er ist von weißen Wölkchen richtig gesprenkelt.«
»Das muss ich mir eben vorstellen«, erwiderte ich und versuchte es gleich mal.
Gerade wollte ich dem Mädchen davon erzählen, da sagte es hastig: »Ich muss gehen. Da ist mein Bruder, er wartet schon auf mich. Friede den Gilden!«
»Äh, und Wohlstand ganz Daresh«, brachte ich gerade noch heraus und ärgerte mich, weil ich vergessen hatte, sie nach ihrem Namen zu fragen.
Udiko und ich verbrachten die ganze nächste Woche auf verschiedenen Märkten, in Schänken und Handelsposten. Meist unterhielten wir uns kaum dabei, hörten nur zu und verglichen ab und zu unsere Eindrücke oder machten Bemerkungen. Ob Udiko wusste, dass ich nach einer ganz bestimmten Stimme lauschte? Aber sie war nie dabei. Keine Chance, dachte ich. Du weißt nicht, wie sie heißt, du weißt nicht genau, wie sie aussieht ... Vergiss es einfach!
Abends, zurück in der Wohnkuppel am Grund des Sees, unterhielten Udiko und ich uns ausführlicher über die Gespräche, die wir mitgehört hatten. Unter seiner Anleitung lernte ich, die feinen Schwingungen aus Stimmen herauszuhören, die eine Lüge verrieten. Nach zwei Tagen hatte ich auch keine Probleme mehr damit, mehrere Gespräche gleichzeitig zu verfolgen, indem ich mal hier, mal dort ein paar Atemzüge lang mithörte. Udiko brachte mir bei, aus dem Akzent festzustellen, aus welcher Gegend von Daresh jemand stammte, und durch die Redeweise und Anhaltspunkte im Gespräch innerhalb von kurzer Zeit herauszufinden, was für einer Gilde derjenige angehörte,