»Sag mal, Udiko – wenn du weißt, wo schwarze Perlen zu finden sind ... warum holst du dir dann nicht selber ein paar?«, fragte ich meinem Meister, als wir in einem heißen Schwefelsee lagen und uns von den Anstrengungen der Suche erholten.
»Wozu?«, fragte der Große Udiko zurück.
Ja, wozu? Er hatte längst alles, was er zum Leben brauchte.
Im Gegensatz zu mir. Ich tauchte noch einmal allein in die Unterwasserhöhlen der Riinanja, in denen wir fündig geworden waren, und holte vier Perlen hoch – eine für jede meiner Schwestern, eine für meine Oma, und eine für mich, als Glücksbringer.
»Stimmt es eigentlich, dass die Dinger Heilkräfte haben?«, fragte ich später, als ich ein Loch in die Perle bohrte und einen Silberfaden hindurchzog, um sie um den Hals tragen zu können.
»Schön wär's«, erwiderte Udiko. »Aber an deiner Stelle würde ich nicht drauf hoffen. Ich habe mal ein paar Winter lang eine getragen, und meine Rückenschmerzen waren schlimmer denn je.«
In den Höhlen zu tauchen, war schwierig, aber bei den meisten Aufträgen musste ich eher meinen Kopf als meine Schwimmkünste einsetzen. Außerdem brachte Udiko mir bei, durch die Augen von anderen zu sehen. Dazu musste ich in die Siedlung schwimmen und mir fünf Leute herauspicken. Jeden beobachtete ich so lange, bis ich mich in ihn hineindenken konnte. Erfüllt hatte ich die Aufgabe, wenn ich es bei jedem geschafft hatte vorauszusehen, was er als Nächstes tun würde.
Ich sollte früher Gelegenheit haben, diese neue Fähigkeit anzuwenden, als mir lieb war. Kurz nach meinem ersten Unterricht im Durch-andere-Augen-Sehen wurde Udiko zum Hohen Rat eingeladen; dort legte gerade ein neues Ratsmitglied, eine Frau namens Ujuna, ihren Eid ab. Angeblich stammte sie direkt vom Sturmläufer ab, dem mythischen Helden des Seenlands. Von Udiko als einer der wichtigen Persönlichkeiten von Vanamee wurde erwartet, dass er sich ihr persönlich vorstellte. »Darauf habe ich in etwa so viel Lust wie auf einen Ringkampf mit einer Raubqualle«, brummte er, als er seine weniger abgewetzte Ersatzschwimmhaut und seine besten Trockensachen heraussuchte. »Wahrscheinlich werde ich eine Woche lang weg sein. Schaffst du es, hier die Stellung zu halten?«
Ich war sauer darüber, dass er mich nicht mitnahm. Deshalb nickte ich schweigend und streichelte den Salamander, der sich in meine Halsbeuge schmiegte.
Udiko grinste. Natürlich wusste er, was ich dachte. »Nächstes Mal, in Ordnung?«, sagte er und verschwand durch den Eingang in den See.
Ich war noch nicht oft allein in unserer Wohnkuppel gewesen. Sie schien sehr still und leer zu sein ohne Udiko. Am nächsten Morgen blieb ich zum ersten Mal einfach auf meiner Seegrasmatte liegen, statt aufzustehen. Erst, als die Sonne hoch am Himmel stand und Lichtlinien auf dem Boden der Kuppel tanzten, kroch ich aus dem Bett. Udiko hatte mir für die Zeit, die er weg war, keine Aufgaben gestellt. Genau genommen hatte ich zum ersten Mal frei, seit ich sein Lehrling geworden war.
Plötzlich wusste ich nichts mit mir anzufangen. Nicht mal Lust zu frühstücken hatte ich. Rauszuschwimmen lockte mich auch nicht, das Wetter war nicht besonders, es war kühl, und ein dicker Wolkenteppich begann aufzuziehen. Ich behielt meine Trockensachen an, lag auf dem Bett, gähnte und dachte mal wieder an Joelle. Ein gutes Zeichen; vielleicht bedeutete es, dass ich endlich über Lourenca hinweg war ...
Weil ich gerade nach oben starrte, sah ich durch die dünnen Wände, wie jemand mit nervösen Bewegungen zu unserer Kuppel heruntertauchte. Hm, das sah nach einem neuen Auftrag aus!
Es war eine Frau aus dem Dorf. »Ist Udiko da?«, keuchte sie. »Es ist dringend!«
»Nein, er ist beim Rat«, antwortete ich und blickte sie besorgt an. »Was ist denn passiert?«
»Eine Luft-Gilden-Familie hat uns um Hilfe gebeten ... Ihr acht Winter alter Sohn ist mit seinem besten Freund zu uns ins Seenland ausgerissen ... Sie haben eines der Kanus des Rats genommen ...«
»O je«, sagte ich. Weil der Rat wenig Interesse daran hatte, dass Fremde in die Provinz kamen, wurden diese an der Grenze vertäuten Kanus nicht gut gepflegt. Sie waren alle ziemlich morsch. »Können die beiden schwimmen?«
»Nicht besonders. Zuletzt sind sie heute Früh in der Gegend von Yanai gesichtet worden, aber inzwischen sind sie verschwunden. Das Kanu haben wir gefunden, aber es war leer. Wir schicken gerade Boten in alle Richtungen aus, damit alle Leute aus den umliegenden Siedlungen suchen helfen.«
»Brackwasser!« Ich merkte, dass mein Herzschlag sich beschleunigte. Das war ein schwieriger Auftrag – und ein lebenswichtiger. Ausgerechnet jetzt war Udiko nicht da! Beunruhigt blickten wir uns an.
»Moment«, sagte ich und rannte zurück, um meine Schwimmhaut anzuziehen und zwei Leuchtstäbe einzustecken. Dann tauchten wir hoch zur Oberfläche und schwammen gemeinsam Richtung Yanai, so schnell wir konnten. Das war der einzige Glücksfall bei der ganzen Sache: In Yanai kannte ich mich aus.
Stumpf und bleigrau wogten die Seen um uns herum, und die Inseln und Landbrücken wirkten wie die dunklen Rücken von Tieren, die sich ins Wasser duckten. Ab und zu fegte ein kalter Windstoß heran und peitschte die Wellen noch höher. Normalerweise hatte ich Spaß daran, mich von den Wogen tragen lassen – je höhere die Wellengöttin Kinona schickte, desto besser –, aber diesmal blickte ich beunruhigt zum Himmel, über den dunkle Wolken eilten. Hoffentlich würde es keinen Sturm geben. Dann hätten die beiden Jungs kaum noch eine Überlebenschance. Wenn sie überhaupt noch am Leben waren. Nachdem das Kanu leer gefunden worden war, waren sie vermutlich über Bord gefallen und ertrunken. Hätten sie doch nur die Inschrift an allen Grenzbrücken beachtet: Ihr betretet jetzt das Gebiet der Wasser-Gilde. Fremde, nehmt euch in Acht! Wer hier nicht hergehört, der wird bitter büßen!
Ich meldete mich beim Kommandanten von Yanai, um mich auf eine Position einteilen zu lassen. »Am besten gebt Ihr mir einen Abschnitt, in dem's tief ist – ich stamme aus Colaris«, erklärte ich hastig und erwähnte nicht, dass ich der Lehrling von Udiko war. Schließlich war ich das erst seit ein paar Monaten, Sucher konnte ich mich noch lange nicht nennen.
»Gut, dann hilfst du im westlichen Teil.« Besorgt blickte der Kommandant zum Himmel, und auf seinem Gesicht mischten sich Regen- und Seewasser.
Die Gegend wimmelte von Leuten, aus allen Siedlungen waren sie gekommen, um zu helfen – auch zwei Sucher waren dabei, die ich vom Sehen kannte. Leider verdienten sie ihren Lebensunterhalt fast nur damit, Händler zu Korallenbänken zu führen. Den Ehrgeiz, schwierige Aufträge zu lösen, hatten sie nicht.
Ich schwamm und tauchte mit den anderen Helfern und suchte zwischen den Wellen und in den Tiefen nach den Kindern, während andere sich auf den Inseln umschauten. Das aufgewühlte Wasser war trübe, und wir kamen nicht besonders gut voran. Und noch immer keine Spur von den Jungen, ob tot oder lebendig. Wenn Udiko hier wäre, hätten wir vielleicht eine Chance, dachte ich verzweifelt und wünschte, ich hätte mehr gelernt, schneller gelernt, wäre ein richtiger Sucher.
Inzwischen war der eisige Wind stärker geworden, und die Wellen wurden noch höher. Ich hatte schon gut zwanzig lange Tauchgänge hinter mir und ließ mich einen Moment lang treiben, um auszuruhen. Dabei bemerkte ich die Blitze. Erst zeichneten sie sich nur als Leuchten am Horizont ab, und zu hören war nichts. Doch das blieb nicht so. Schon bald krachte der Donner über die Seen von Yanai wie Faustschläge eines wütenden Gottes; der Regen prasselte hart auf uns herab. Kurz darauf machte unter den Helfern die Nachricht die Runde: »Wir brechen ab! Lonzo sagt, wir müssen abbrechen, bis der Sturm vorbei ist!«
Niedergeschlagen blickten wir uns an. Wir wussten alle, dass sich das Wetter noch die ganze Nacht austoben würde – und dass es morgen Früh zu spät sein würde.